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«Dies Kind soll leben»


Рис.0 «Dies Kind soll leben»

Schöffling & Co.

Рис.1 «Dies Kind soll leben»

Helene Holzman, um 1950.

Erstes Heft

Vitam non mortem recognita

  • Dreimal schlug das Wasser Wellen,
  • Dreimal tauchtest du empor,
  • Dreimal hätt’ ich retten können,
  • Doch ich habe blind versagt.
  • Lautlos zogest du von hinnen,
  • Lautlos folg ich deiner Spur,
  • Lautlos glätten sich die Kreise,
  • Du und ich verrinnen beid.
Edwin Geist: Requiem

19. Juni 1941. Wir hatten nach langem Suchen endlich eine Wohnung [in Wilna] gefunden und schließlich auch ein Fuhrwerk, mit dem wir unsere Koffer und unsere anderen Habseligkeiten dorthin geschafft hatten, und fuhren mit dem Abendzuge [zurück] nach Kaunas.

Die neue Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer in einem altmodischen Hause unweit vom Bahnhof und war ein schlechter Tausch gegen unsere schöne, blanke Kaunaer Wohnung. Wir hatten uns aber schon damit abgefunden und uns ausgedacht, wie wir den großen Raum einteilen würden, so daß jeder seinen Platz darin haben würde. Im Sommer könnte man sich auf dem weiten, großen steinernen Altan aufhalten, der zu dem Zimmer gehörte, von dem man in die stille Straße und einen weiten Garten mit mächtigen Bäumen sah. Im Winter würden wir uns alle vier um den großen Kachelofen drängen, und die Abende würden warm und gemütlich sein.

Wir waren auf dieser zweistündigen Fahrt von Wilna nach Kaunas sehr vergnügt und voller Pläne. Wir hatten, nachdem unsere Buchhandlung» Pribačis «in Kaunas, die wir in fast zwanzig Jahre langer Arbeit aufgebaut hatten, nationalisiert worden war[1], beide Arbeit in Wilna gefunden – mein Mann als Leiter eines großen staatlichen Antiquariats, ich als Lehrerin für Deutsch am Pädagogischen Institut. Einige Monate lang waren wir mehrmals in der Woche zwischen Kaunas und Wilna hin und her gefahren. Jetzt sollte das unbequeme Leben aufhören. Die beiden Mädchen hatten ihr Schuljahr beendet, und wir wollten alle zusammen in Wilna leben.

Im Abteil mit uns fuhr ein hoher Polizeifunktionär. Wir fragten ihn, ob er den Gerüchten über Truppenansammlungen des deutschen Heeres an der litauischen Grenze Wert beilege. Er lachte uns aus. Weder die Deutschen noch die Russen seien für einen gegenseitigen Krieg vorbereitet. Er selbst habe gerade Ferien bekommen und wolle auf die Kurische Nehrung fahren. Diese Nachricht beruhigte uns völlig. Wir wandten unsere Gedanken wieder unseren eigenen Angelegenheiten zu.

Zu Hause wurden wir mit großem Jubel empfangen.[2] Marie hatte ihr Abitur gut bestanden – keine Kleinigkeit in der Abendschule neben der Tagesarbeit im Büro. Gretchen hatte auch gute Zensuren. Beide Mädchen freuten sich auf den Umzug in die neue Hauptstadt[3], und wir alle [waren froh], daß wir wieder zu viert zusammen wohnen würden. Bevor wir unsere Möbel packten, wollten wir noch ein Abschiedsfest geben und alle Kaunaer Freunde dazu einladen. Keinem von uns kam eine Ahnung, daß dies die letzte fröhliche Stunde war, die wir zusammen verlebten.

Am nächsten Morgen schwirrten schon die Straßen von der Kriegserklärung Deutschlands an die Sowjetunion. Unsere Freunde, Doktor Zinghaus mit seiner Frau, kamen zu uns. Wir waren zunächst alle ganz fassungslos und in keiner Hinsicht darauf vorbereitet. Doktor Zinghaus, der mit seinen Eltern drei Jahre vorher aus Berlin geflüchtet war, sprach gleich von der Notwendigkeit, nach dem Innern der Sowjetunion zu flüchten. Die Sowjets seien nicht auf den Krieg vorbereitet und wahrscheinlich nicht imstande, die Front in Litauen zu halten.

Die ersten Bomben fielen. Die Bevölkerung beklebte ihre Fenster mit Papierstreifen. Unsere Freunde gingen nach Hause, um ihre Eltern zu holen, da sie sich in ihrer Wohnung nahe der Funkstation zu gefährdet glaubten.

Ich ging aus, um zum Mittagessen einzukaufen. Vor den Läden standen die Menschen in langen Schlangen. Jeder wollte noch schnell etwas erraffen. Sie standen dicht an die Häuser gedrückt, denn überall krachten die Bombeneinschläge, stiegen Rauchwolken auf, und mancher Straßengänger wurde von Splittern verletzt. Auf der Heeresstraße zogen die Soldaten westwärts nach der Front, immer neue, zu Fuß, mit Geschützen, zu Pferde.[4] Mein Blick fiel zufällig auf einen kindlich jungen Reiter, der mit hellem Blick geradeaus sah. Werdet ihr der Wucht des Feindes widerstehen? Wißt ihr, ahnt ihr es, welche Gewalten gegen euch aufgestanden sind?

Die verschiedensten Gerüchte wurden laut. Memel sei bereits in den Händen der Sowjets. Nein, im Gegenteil, die Deutschen seien schon in Marijampole. Zu Hause waren alle sehr aufgeregt. Doktor Zinghaus war unterdessen im Nachrichtenbüro gewesen: Ja, der Feind rücke heran.

Er war nun da, der bange Augenblick, den wir schon seit vielen Jahren für möglich gehalten, den wir hundertmal mit den Freunden erwogen hatten, ohne an sein Herannahen ernstlich zu glauben. Während acht Jahren hatte sich der Nationalsozialismus gespenstisch immer mehr aufgebläht. Wir sahen bei unseren Reisen nach Deutschland, wie er die Menschen verdarb, verdummte, durch einen verlogenen Scheinsozialismus die Menschen betrog und [wie] der irre Antisemitismus immer erbarmungsloser Tausende von Deutschen, so gute Deutsche wie alle andern, hinwegmähte, nur weil sie nach der neuen Wahnidee keine» Arier «waren.

Die Volksdeutschen[5] aller Länder waren von dem Wahn infiziert worden. Ich erlebte, wie meine Kollegen im Kaunaer Deutschen Gymnasium, die sich bis jetzt munter Demokraten genannt hatten, dem Massenwahn verfielen. Während der zehn Jahre, die ich dort Lehrerin gewesen war, hatten deutsche, jüdische, litauische, russische, polnische Knaben und Mädchen in fröhlicher Gemeinschaft die Schule besucht. Auch die Lehrer waren ein buntes Volksgemisch, und keinem war es je eingefallen, es sich anders zu wünschen.

Was geschah nun im Jahre 33? Die Deutschen, die bis jetzt im litauischen Staat blühten und gediehen, waren auf einmal unzufrieden. Sie fanden auf einmal, daß man sie unterdrücke. Man erkenne sie nicht an, man müsse sich neue Rechte verschaffen. Nach den ersten Pogromen in Berlin[6] traten die jüdischen Schüler aus dem Gymnasium aus. Das war erst recht ein Grund für die Deutschen, ihren erwachten Antisemitismus zu nähren. Aus unserer Buchhandlung, die von Litauern, Juden, Deutschen gleichmäßig besucht wurde, zogen sich die deutschen Kunden zurück. Mein Mann, der bis jetzt für jeden ein Deutscher gewesen war, war auf einmal für die Deutschen keiner mehr – er war Jude.[7]

Die litauische Intelligenz kümmerte sich im allgemeinen nicht viel um diese Probleme. Unsere litauischen Freunde und Kunden blieben dieselben, und es gelang uns, die litauische Staatsangehörigkeit zu erwerben, die uns auch bei unseren Reisen durch Deutschland schützte.[8] Als 1940 der litauische Staat eine Republik der Sowjetunion geworden war und die Deutschen in ihrer Gesamtheit» heim ins Reich«[9] gewandert waren, hatten die Anfechtungen, unter denen wir und die Kinder gelitten hatten, aufgehört. Wir waren Menschen unter Menschen.[10]

Wir saßen, wie gestern abend, in unserer schönen Stube, vor uns Marie und Gretchen, schwesterlich einander ähnelnd. Die gestrigen Pläne waren zerflogen. Was tun? Ins Innere Rußlands flüchten? Wir konnten kein Russisch. Nein, wir wollten hier bleiben, vor allem zusammenbleiben, sich keinesfalls trennen. So würden wir auch schwere Zeiten überwinden.

Am Nachmittag begannen wir, zusammen mit unserem Wirt vor dem Haus einen Schützengraben zu graben. Max als erfahrener Weltkriegssoldat gab die Direktiven.

Freund Edwin Geist[11], der Komponist, kam mit seiner Frau: Ob sie bei uns übernachten könnten? Leider nein, denn schon alle vier Zinghaus waren bei uns.

Am nächsten Mittag entschlossen sich Zinghausens, mit einem Zug, der auf dem Bahnhof bereit stand, in Richtung Minsk zu flüchten. Sie wollten nach Hause laufen, um in Eile kleine Köfferchen mit dem Nötigsten zu packen, und dann sofort zum Bahnhof eilen. Sollten wir nicht doch mitkommen? Wir sagten nein. Eiliger Abschied.

Nach einigen Stunden kamen die Eltern Zinghaus zurück. Sie seien zusammen in den überfüllten Zug eingestiegen. Immer neue Menschen hätten sich hineingedrängt, sich auf die Waggons gesetzt, an die Tür gehängt. Da habe sie, die Alten, eine solche Furcht vor dieser Fahrt ins Ungewisse überkommen, daß sie sich von ihren Kindern, die keinesfalls von ihrem Fluchtplan ablassen wollten, getrennt hätten und wieder ausgestiegen seien. Da saßen sie wieder bei uns. Der alte Herr, schon siebzig Jahre und gebrechlich, mit den dichten, borstigen weißen Haaren, weinend wie ein Kind, und seine Frau war besorgt um ihn und weinte auch, und wir trösteten sie.

Unsere Alten hatten aber keine Ruhe. Nach einigen Stunden beschlossen sie, noch einmal zum Bahnhof zu gehen. Vielleicht war der Zug noch nicht abgefahren, und sie könnten ihre Kinder noch einmal sehen und ihnen noch etwas Geld mitgeben. Sie kamen am Abend nicht zurück. So sind die Alten also doch mitgefahren, dachten wir und gelobten uns zum wiederholten Mal, auf jeden Fall zusammenzubleiben, komme, was wolle.

Dann kam der Dienstag.[12] Auf den Straßen vollzog sich die Revolution. Ein bewaffnetes Heer, Zivilkleider, eine Binde am Arm, war aus dem Boden gewachsen, die Partisanen.[13] Wir hatten keine Vorräte im Haus, und ich ging einholen. Wieder standen lange Schlangen vor den Läden. Überall knallte, dröhnte es. Das Heer der Rotarmisten füllte die Straße, diesmal als Rückzügler. Unter den schnell reitenden Kavalleristen glaubte ich wieder den jungen Reiter zu erkennen, der vor zwei Tagen westwärts geritten war. Der deutsche Einfall war gelungen. Drei entsetzliche Jahre mußten vergehen, ehe die Rote Armee durch diese Straße wieder hergezogen kam – als Sieger.

Ganz in der Nähe platzte eine Bombe. Ich stand in der Menge an eine Hauswand gedrückt. Da sah ich Max kommen. Er fand es zu gefährlich, auf der Straße zu stehen, und holte mich ab.

Dem deutschen Heer war der schreckliche Geier, der Judenhaß, mit schwarzen Schwingen vorangeflogen. Schon bevor die deutschen Soldaten einrückten, hatten die Partisanen ihre antisemitischen Befehle bekommen. Viele von den Juden, die in diesen Tagen noch zu fliehen versuchten, [wurden] von den Partisanen aufgehalten, festgenommen oder zur Rückkehr gezwungen. Ein furchtbarer Anblick: die Züge von Juden, die aus der Stadt flüchteten. Die Kühneren, auf Fahrrädern, wollten ins Innere Rußlands. Viele gedachten, nun in die Provinz zu ziehen. Vielleicht hofften sie dort auf mehr Schutz durch die litauische Bevölkerung, denn gerade auf dem Lande waren die Beziehungen zwischen Litauern und Juden oft sehr freundlich gewesen.

Marie wollte am Nachmittag durchaus zur Mutter eines Freundes gehen, der geflüchtet war und ihr Grüße für die Mutter aufgetragen hatte.[14] Ich wollte sie begleiten, damit sie nicht allein geht. Unsere Straße war menschenleer. Von allen Seiten tönten Schüsse. Als wir in die breite Straße einbogen, die vom Grünen Berge[15] in die Stadt führt, rief uns ein Partisan an:»Was habt ihr auf der Straße zu suchen?«– Wir hätten einen wichtigen Gang. Er solle uns vorbeilassen.

Da erkannte er Marie.»Bist du nicht die Kommunistin? Warte, dir wird es jetzt schlecht ergehen.«[16] Aber er ließ uns weitergehen. Wir stiegen einen kleinen Treppenpfad direkt zur Stadt hinunter. Unten wieder ein Partisan. Er ließ uns nicht durch, und wir mußten umkehren.

Mein Mann hatte sich schon Sorgen um uns gemacht. Noch einmal freuten wir uns, wieder vereinigt zu sein, und wir nahmen uns vor, ein paar Tage gar nicht auszugehen und erst einmal abzuwarten. Am Abend ließen die Deutschen eine große weiße Leuchtkugel aufsteigen zum Zeichen, daß die Stadt eingenommen war.

Mittwoch (25. Juni).[17] Mein Mann hielt es nicht zu Hause aus. Er wollte in den Staatsverlag, dessen Angestellter er war, gehen und sich besprechen. Wir hatten von privilegierten Mischehen in Deutschland gehört. Mein Mann war im Leipziger Buchhändlerbörsenverein bis zuletzt ein hochangesehenes Mitglied. Aus Holland wußten wir, daß Juden zum Teil in Stellungen belassen waren, und wenn nicht, so würde ich doch wahrscheinlich weiter Lehrerin sein können.

Er und Marie gingen zusammen fort. Ich sollte unterdessen etwas zu Mittag kochen. Ich ging in den Garten, sammelte Brennesseln und Ackermelde für Spinat. Im Keller waren Kartoffeln. Als ich vom Garten heraufkam, standen die beiden alten Zinghausens vor der Tür.

Sie waren völlig erschöpft und verzweifelt. Als sie am Montag auf den Bahnhof gekommen sind, war der Zug schon abgefahren. Im Augenblick, wie sie zurückgehen wollten, wurde der Bahnhof bombardiert. Sie flüchteten mit vielen andern Menschen in einen Hauskeller, wo sie die Nacht und auch den folgenden Tag und die Nacht unbequem sitzend verbrachten. Die Straßen um den Bahnhof wurden gesperrt. Für Zivilisten war kein Durchkommen möglich. Sie konnten in ihrem Versteck Wasser bekommen und auch ein paar Semmeln kaufen. Am Morgen wollten sie dann in ihre Wohnung gehen.

Der Hausmeister wollte sie nicht hereinlassen. Man hätte geglaubt, daß sie geflohen seien, und die Wohnung sei bereits von deutschen Offizieren beschlagnahmt. Nach vielem Bitten und einem großen Trinkgeld erklärte er sich schließlich bereit, sie einzulassen. Sie fanden ihre Wohnung vollständig ausgeplündert. Alle Schränke waren ausgeräumt, alle Wäsche, Kleider, Schuhe, Betten, Decken, alles Geschirr und Küchengerät verschwunden. Im eingebauten Küchenschrank fanden sie ein paar einzelne Teller und Messer und Gabeln. Der Hausmeister vertrieb sie bald mit groben antisemitischen Beschimpfungen, und so waren sie wieder zu uns gekommen.»Wir waren wohlhabende Leute, jetzt sind wir von einem Tag zum andern Bettler geworden.«

Während sie sich wuschen und ausruhten, kochte ich schnell Mittagessen. Wo blieben nur mein Mann und Marie so lange? Ich lief vor Ungeduld auf die Straße, bis zur Hauptstraße. Dort stand ich und wartete, wartete – anfangs nur ärgerlich, daß sie so säumten, aber allmählich mit immer wachsender Angst. Ich sah die ersten deutschen Soldaten. Um einen hatten sich Leute versammelt. Er erzählte laut, wie er versteckte Russen aufgefunden und umgebracht hätte.»Und die Juden? Ich sehe ja gar keine. Sie haben sich wohl alle davongemacht oder in ihren Schlupfwinkeln versteckt. «Alle lachten laut und roh. Der Soldat trug den Hals weit ausgeschnitten und ein buntes Halstüchlein. Ich sah das zum ersten Mal.

Es war drei Uhr. Ich lief nach Hause, bewirtete die beiden alten Gäste, zwang mich, auch zu essen, um sie nicht mit meiner Angst aufzuregen. Vor Gretchen konnte ich sie nicht verbergen. Noch immer kommen unsere beiden nicht. Ich lief in die Stadt herunter. Schon vom Berg sah ich die Hakenkreuzfahne auf dem Kriegsmuseum wehen. Die Laisves Allee[18] voller Menschen. Die deutschen Soldaten wurden enthusiastisch als» Befreier «begrüßt. Alle Menschen waren erregt und die meisten vergnügt.

Ich traf den Rechtsanwalt Stankevičius mit seiner Tochter.»Haben Sie meinen Mann gesehen?«Er wurde sofort bedenklich. Es seien viele Juden auf der Straße verhaftet.

Ich jagte durch alle Straßen, fragte alle Bekannten, keiner hatte die beiden Unseren gesehen. Dann hetzte ich wieder nach Hause. Vielleicht sind sie unterdessen gekommen? Nichts. Den Gästen Abendbrot gemacht, ein wenig gesprochen, wieder auf die Straße, bis es dunkel wurde.

Am nächsten Tag hörte man von allen Seiten von großen Judenverfolgungen. Aufrufe: Juden hätten auf deutsche Soldaten geschossen. Für jeden getöteten Soldaten werde man 100 Juden töten. Die Zeitungen, Flugblätter enthielten fast nichts anderes als die furchtbarsten antisemitischen Exzesse.

Ich lief zur litauischen Polizei, traf vor der Tür einen litauischen Kriminalbeamten, der meinen Mann gut kannte. Er versprach, sich zu erkundigen, wo die Meinen seien, und mir Nachricht zu geben. Er hat nichts von sich hören lassen. Ich traf ihn später noch oft. Er vermied [es], mit mir zu sprechen.

Drei Tage lief ich so umher, zu Hause die beiden alten Freunde, die auch getröstet werden wollten. Gretchen half mir überall. Wir verstanden uns ohne Worte. Am dritten Tag ging mittags das Telefon. Marie!» Mutti? Ich bin da. Ist Vater bei euch? Ich komme gleich nach Hause.«

Unsere alten Freunde umarmten mich. Ich sagte aber gleich, es ist ein schlechtes Zeichen, daß Marie allein da ist. Da war sie schon, die gute Marie, erhitzt, verschmutzt und mit leuchtenden Augen. Erst einmal sich waschen, duschen, sich umziehen und dann ordentlich essen. Aber beim Essen kann man schon erzählen.

«Als wir auf der Laisves Allee gingen, rief ein Partisan, der mein Kollege in ›Sodyba‹[19] gewesen war: ›Du bist die Kommunistin, jetzt bekommst du deine Strafe dafür. Wer ist der Herr? Dein Vater? Er soll auch gleich mitkommen.‹ Man führte uns beide in das Polizeirevier. Dort wurden wir getrennt. Vater rief mir zu: ›Wer zuerst von uns freikommt, wird sich anstrengen, den andern freizubekommen!‹ Dann sah ich den Vater nicht mehr. Ich wurde mit vielen andern Frauen ins Gefängnis gebracht. Wir wurden alle zusammen in einen großen Raum gesperrt. Eine ältere Frau, die man als Kommunistin verhaftet hatte, gefiel mir besonders. Sie tröstete die andern und war so heiter und sicher, daß [sie] sich beruhigten. Auf der Erde lag Stroh als Lager. Man bekam mittags Suppe, früh Kaffee und Brot. Ich konnte nicht essen, dachte nur immer an euch und die Sorgen, die ihr euch um uns macht. Am zweiten Tag sagte ich zu dem Beamten, der zur Inspektion hereinkam: ›Ich bin Deutsche. Man hat mich aus Versehen verhaftet. Laßt mich sofort frei.‹ Man rief einen deutschen Polizeibeamten, auf den ich so lebhaft auf deutsch einsprach, daß er sich überzeugen ließ. Er sagte: ›Morgen kommen Sie frei.‹ Heute gegen zehn rief man mich und fragte noch mal, ob ich wirklich Deutsche sei. Dann ließ man mich frei.«

Da war es nun wieder, mein Sorgenkind, saß vor meinen Augen in der Küche und aß mit großem Appetit ihre Butterbrote.»Nun müssen wir den Vater erlösen.«

Ich lief noch am selben Tag in die deutsche Sicherheitspolizei.»Tritt nur recht sicher auf als Deutsche«, hatte mich Marie gelehrt. In einem Anmeldezimmer mußte ich lange warten, dann kam ein Beamter und fragte mich genau aus. Eine Deutsche im Ostgebiet ist verdächtig, denn die Deutschen waren alle ins Reich repatriiert.»Aha. Also wegen des jüdischen Mannes sind Sie hiergeblieben. Bringen Sie morgen ein schriftliches Gesuch um Befreiung Ihres Mannes.«

Am nächsten Tag ein neuer Beamter. Wieder alle Fragen von neuem.»Lassen Sie das Gesuch hier, wir werden uns erkundigen, ob Ihr Mann im Gefängnis ist. Kommen Sie übermorgen wieder.«

Übermorgen – da wußte kein Mensch etwas von meinem Gesuch. Wieder lauter andere SS-Beamte. Wieder alle Fragen von neuem.

Ich hatte die Stammrolle meines Mannes mitgebracht, aus der hervorging, daß er im Weltkrieg von August 1914 bis zum Kriegsende deutscher Soldat gewesen war und welche Ehrenzeichen er damals bekommen hatte. Der SS-Beamte warf einen Blick darauf, schob es mir hin und schnarrte:»Das können Sie sich wieder einstecken. Interessiert uns nicht. Jude bleibt Jude. Kommen Sie in ein paar Tagen wieder. «So ging es nicht.

Der Rechtsanwalt Stankevičius, der meinen Mann gut kannte und sehr schätzte, versprach, seinerseits einen Versuch zu machen. Er reichte zusammen mit Prof. P. [?] und dem Rechtsanwalt T. [?], alle drei bekannte Männer, eine offizielle Bitte um Befreiung meines Mannes ein, der eine sehr angesehene, politisch einwandfreie und von allen geschätzte Persönlichkeit sei, so daß seine Verhaftung nur auf einem Irrtum beruhen könne. Dieses Gesuch brachte er selber auf die Sicherheitspolizei. Es ist nie beantwortet worden.

Das nächste Mal traf ich in der Polizei einen Beamten, der mein Schüler im Deutschen Gymnasium gewesen war. Er gab mir die Hand. Das war ungewöhnlich, denn diese Beamten vermeiden das sonst. Er schickte mich zu einem andern Beamten. Man wußte weder etwas von meinem Gesuch noch von dem Gesuch der drei litauischen Koryphäen.»Kommen Sie nach einer Woche. Wenn Ihr Mann da ist, werden wir ihn nach Hause schicken.«

Ich jagte von einer Stelle zur andern. Auf den Straßen wurde regelrechte Jagd auf Juden gemacht. Partisanen drangen in jüdische Wohnungen ein, gaben einen Schuß zum Fenster hinaus und verhafteten oder erschossen die ganze Familie unter dem Vorwand, daß die Juden selbst auf deutsche Soldaten geschossen hätten. Die jüdischen Wohnungen wurden geplündert. Litauische Partisanen und deutsche Soldaten forderten Abgabe von Geld, Uhren, Schmuck, steckten sich ein, was ihnen gefiel.

Durch die Straßen wurden größere und kleinere Trupps von Juden zum Gefängnis geführt, von dort oder oft auch direkt zum VII. Fort. Auf dem Savanoriu-Prospekt, der breiten Landstraße, die ostwärts führt, auf der sich die russische Armee zurückgezogen hatte, auf der die unvorbereiteten Familien der russischen Armee, der russischen Beamten geflohen waren, auf der Hunderte von Juden sich noch bis in die letzten Stunden vor [dem] Einmarsch der Deutschen – sogar viele auch später noch – gerettet hatten, auf dieser Straße wurden immer neue Trupps von Juden, Männer, Frauen, nach dem VII. Fort getrieben. Sie gingen sprachlos, wie entgeistert über das unfaßbare Dunkle, das über sie hereingebrochen. Die Frauen manchmal in leichten Sommerkleidern, ohne Mantel. Die Männer ohne Kopfbedeckung. Andere trugen [einen] Mantel und in der Hand ein Bündel. Hinter und neben ihnen Partisanen, das Gewehr in der Hand, mit harten, grausamen Gesichtern und überzeugtem Schritt, wie die Schächer auf einer mittelalterlichen Kreuzigung von Multscher.[20] Ach, solche Leidenswege sollten hier jetzt tausendmal wahr werden. Kein Bild kann diese tierische Grausamkeit, diese abgründigen Leiden darstellen.

Ich stand am Straßenrand und suchte in den traurigen Zügen, sah darunter Bekannte. Manche grüßten verstohlen. Den ich suchte, sah ich nicht. Wir gingen zu dritt. Auch Maries und Gretchens Augen prüften die Vorbeigehenden. Keiner von uns sprach aus, was er dachte.

Ich lief in die neu geschaffenen Behörden, bis zum General Raštikis[21], wartete lange im Vorzimmer. Dort umarmten sich angesehene Litauer und beglückwünschten sich zu den neuen Stellungen, in die sie das neue Regime gesetzt hat. Ich stand starr daneben und sah mir ihre hohle Freude an. Einige dieser neuen Koryphäen sollten sehr schnell zur Einsicht kommen, von welcher Art diese» Befreiung «war.

Zu Raštikis selbst wurde ich nicht gelassen. Sein Stellvertreter. Ich merkte gleich, diese Leute haben nichts zu sagen. Sie handeln nach den Befehlen der Eroberer. Der Mann notierte sich auf, und ich fühlte, daß nichts geschehen werde. Aber auch Juden kamen doch heraus auf Empfehlung. Ich hörte von verschiedenen Fällen.

Da traf ich auf der Laisves Allee den jungen Architekten Moschinskis, erzählte ihm in Eile, und er war sofort bereit, mir zu helfen. Wir gingen zusammen in das Gefängnis. Er kannte den Direktor persönlich.»Ja«, sagte der,»das Gefängnis ist seit zwei Tagen in den Händen der Gestapo. Wir haben nichts mehr zu sagen.«

Wir gingen zusammen in die Kriminalpolizei. Auch dort wurde Moschinskis als bekannte litauische Persönlichkeit begrüßt. Er schilderte meinen Mann als Menschen hoher Kultur, unpolitisch usw.»Seit einer Woche im Gefängnis?«sagte der Beamte bedenklich.»Von denen sind wenig übriggeblieben. «Er nahm den Hörer und rief das Gefängnis an. Max Holzman? Ja. Der ist noch da.»Seien Sie beruhigt, Frauchen. Morgen mittag um zwölf ist Ihr Mann wieder zu Hause.«

Ich schüttelte dem Beamten die Hand und verabredete mit Freund Moschinskis, der außerhalb der Stadt wohnte, daß er in einer Stunde zu uns zum Mittagessen kommen soll, und lief nach Hause zu den Kindern, um ihnen die frohe Nachricht zu bringen. Wir saßen auf dem Balkon. Nur erst wieder vereint sein, dann wollten wir schon gemeinsam überlegen, wie wir dem Schicksal trotzen könnten. In Deutschland, hatten wir gehört, gab es Ausnahmegesetze für Mischehen.[22]

Am nächsten Morgen ging ich früh auf den Markt. Es gab kein Gemüse, kein Obst. Schließlich bekam ich am Rande der Stadt von Bauern, die mit ihren Wagen hereinfuhren, frische Walderdbeeren. Ich eilte zurück. Vielleicht ist mein Mann schon gekommen. Nein, niemand ist gekommen. Ich ging mit den Kindern auf die Straße. Wie immer seit dem Einzug der Deutschen waren fern und nah Schüsse zu hören: Jagd auf verstreute russische Soldaten, auf Juden. Wir gingen die Straße auf und ab, auf und ab, standen lange an der Straßenkreuzung, wo ich schon einmal stundenlang gewartet hatte.

Dort speit alle fünf Minuten der elektrische Aufzug, der die Stadt mit dem Grünen Berg verbindet, einen Strom von Menschen aus. Manchmal glaubten wir, den Vater zu erkennen. Kam dort nicht eilig ein Herr mit einem weißen Panama? Aber nein, ein wildfremder. Wir standen und standen, bis wir endlich stumm, todmüde nach Hause gingen.

So warteten wir noch den ganzen nächsten Tag. Dann ging ich wieder auf die litauische Polizei. Man war nicht mehr freundlich, tat so, als wüßte man von nichts, und gab unklare Antworten, die nichts versprachen. Ob Moschinskis vielleicht mehr erreicht? Man kennt ihn überall, und er hat eine so überzeugende Art zu sprechen. Algis wohnte in Panemune, gute anderthalb Stunden von der Stadt entfernt. Ich ging die staubige Landstraße in der glühend heißen Sonne, ging und ging. Trupps deutscher Soldaten laut singend, nein, grölend von der» kleinen Ursula«. Sind diese Horden wirklich meine Landsleute?

Algis war nicht zu Hause. Seine schöne Frau saß groß und ruhig vor dem Hause mit ihren blühenden Kindern. Was wißt ihr von meinen Sorgen? dachte ich. Aber das friedliche Bild war eine Täuschung. Frau Moschinskis erzählte, daß ihr jüngster Bruder als Mitglied der kommunistischen Jugendvereinigung von Partisanen gemordet wurde. Ihre Eltern hielten sich bei ihnen versteckt. Ihr Vater, Arzt in einer Provinzstadt, war als Freund der Sowjets bekannt und wagte es vorläufig nicht, in seine Praxis zurückzukehren.

Da kam Algis mit nacktem Oberkörper, sonnenverbrannt, von seiner Wiese, die er gemäht hatte. Er versprach, am nächsten Morgen mit dem Rade in die Stadt zu kommen, um mit mir noch einmal in die Behörde zu gehen.»Nichts unversucht lassen, bis wir Erfolg haben«, tröstete er mich.

Ich lehnte ihre Einladung, zu bleiben und mit ihnen zu essen, ab, wollte so schnell wie möglich wieder bei den Kindern sein. Der Rückweg noch ermüdender, glühende Sonne, Staub und viele Soldaten. Am Straßenrand eine Pumpe. Ich trank das kalte Wasser. Mir schwindelte, ich hielt mich an einem Zaun, sah die Soldaten durch einen weißen Schleier, hörte deutsche Worte, sah deutsche Gesichter, so fremd, so fremd…

Am nächsten Tage trafen wir uns, liefen, sprachen, baten, ohne eine klare Auskunft zu erhalten. In der Stadt hatten sich schreckliche Szenen abgespielt. Auf der Bahnhofstraße war es auf dem Hof einer Autogarage zu einer regelrechten Schlacht der Partisanen gegen etwa… Juden gekommen, wobei die Juden, die ohne Waffen waren, sämtlich umgebracht wurden.[23] Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt, um dem entsetzlichen Schauspiel zuzusehen und die blinde Wut der Mörder mit ermunternden Zurufen zu schüren. Es gab auch Stimmen, die ihrer Empörung über diese Bestialität Luft machten.»Eine Schande für Litauen!«wagten Mutige zu sagen, wurden aber sofort zum Schweigen gebracht. Von allen Seiten drangen die Schrekkensnachrichten zu uns.

Die Kinder und ich wagten nicht, miteinander davon zu sprechen. Da stand die Glasschale mit den Erdbeeren, die wir zu Vaters Empfang bereitet hatten. Sie waren längst verfault, keiner räumte sie fort.

Ich ging wieder einmal in die Sicherheitspolizei. Man erinnerte sich meines vorigen Besuchs und gab mir eine Liste der jüdischen Insassen des Gefängnisses zur Durchsicht.»Wenn Sie ihn darunter finden, werden wir ihn sofort entlassen. «Sein Name war nicht darunter.

Ich ging langsam in der heißen Mittagssonne nach Hause. Er ist nicht mehr da, sagte ich immer wieder vor mich hin. Wie soll ich das den Kindern sagen? – Ich brauchte ihnen nichts zu sagen. Sie verstanden und schwiegen. Ich warf die alten Erdbeeren fort, kochte etwas zu Mittag wie alle Tage…

Vielleicht ist er auf dem VII. Fort? Dort hatte sich das Archiv wertvoller historischer Dokumente und Bücher befunden. Andern soll es gelungen sein, ihre Angehörigen dort zu sprechen. Gegen Abend stand ich vor dem Gitter des VII. Fort. Ich sprach mit der Wache, versprach hohe Bestechung. Gut, er wird suchen. Ich wartete, wartete. Schließlich erschien er wieder.»Nein, einen Max Holzman gibt es hier nicht.«

Ganz nahe beim Fort gab es einen kleinen Laden. Die Inhaberin, Wanda, ein wunderhübsches junges Mädchen, war im ganzen Stadtviertel eine populäre Erscheinung. Ihre kleine Bude war immer voller Menschen. Sie war nicht nur sehr geschäftstüchtig und verstand, mit jedem umzugehen, sondern hatte auch ein warmes Herz und einen klaren Verstand.

Dorthin kamen auch die Partisanen vom VII. Fort, um Zigaretten zu kaufen und mit Wanda zu scherzen. Wanda erfaßte sofort meine Lage und vermittelte mit ihnen. Die Partisanen versprachen, meinen Mann [zu] suchen und ihn frei[zu]lassen. Aber man fand ihn nicht.»Das hättet ihr uns früher sagen müssen«, meinte einer,»jetzt sind schon viele nicht mehr da.«—»Nicht mehr da?«fragte ich.»Wo sind sie denn jetzt?«Er gab keine Antwort.

Ich ging noch oft die breite Pappelallee zu Wanda, auf der man Hunderte von Juden getrieben hatte, von denen die meisten» nicht mehr da «waren. Darunter war einer, das war Max Holzman, das war mein Mann.

Oder war er vielleicht gar nicht hierher gekommen? Viele Juden waren irgendwohin in die Provinz zur Arbeit geschickt worden. Vielleicht lebt er und kommt wieder. Wenn er nur erst wieder bei uns ist. Wenn wir nur erst wieder vereint sind, dann sollen uns alle Leiden leicht werden…

Jeden Tag neue Schrecken, neues Entsetzen. Ein Anschlag mit riesengroßen Lettern in der ganzen Stadt. Alle Juden müssen auf der linken Brust einen gelben Stern tragen. Sie dürfen nicht auf dem Fußsteig gehen, sondern daneben, auf der rechten Seite der Straße, und zwar einzeln hintereinander. Es werden besondere Lebensmittelkarten für Juden ausgegeben und besondere Geschäfte eingerichtet. Sie bekommen weniger Brot, keinen Zucker, weniger Fett und Fleisch als die andern.

Die beiden alten Zinghausens, die nun ganz ohne Wohnung und Sachen waren, hatten einige Tage bei uns gewohnt.»Wir sind von einem Tag zum andern zu Bettlern geworden«, sagte die alte Dame. Sie sagte es mit Ruhe und sanfter Ergebenheit in das Schicksal, das auf so unbegreifliche Weise über sie hereingebrochen, einer Ergebenheit, die die Juden so unendlich leidensfähig machte. Und diese Stärke war den anderen wieder so unverständlich, daß sie ihr mit neuem Mißtrauen begegneten.

Sie waren dann, die beiden würdigen Freunde, zu ihren Verwandten in die Altstadt gezogen. Wir besuchten sie oft und brachten ihnen Brot oder Gemüse aus dem Garten. Sie hatten noch einige Versuche gemacht, wenigstens etwas von ihren Kleidungsstücken zurückzubekommen. In einer von einer Militärperson verwalteten Sammelstelle von jüdischem Besitztum erblickten sie einen Teil ihrer früheren Habe. Man war dort, wie man es zum Teil auch in Deutschland gewesen war, von eisig korrekter Höflichkeit und ließ sich schließlich herbei, den beiden je einen alten Mantel und etwas Bettzeug zu geben – schadhaftes, beileibe nichts von dem besseren. Leibwäsche wurde verweigert.

Mitte Juli wieder große Anschläge: Alle Juden der Stadt sollen binnen einem Monat nach Vilijampole ziehen, wo sie in einem Ghetto, abgetrennt von der übrigen Bevölkerung, konzentriert werden sollen.[24] Vilijampole liegt nördlich der Stadt, jenseits der Vilija, eine arme Vorstadt, vorwiegend mit alten Holzhäusern ohne Kanalisation und Wasserleitung. Die Juden können ihre Häuser und Wohnungen gegen solche in Vilijampole tauschen. Verkauf von Häusern, Möbeln, Wertsachen ist ihnen verboten.

In Kaunas hatten sich ungefähr 45000 Juden befunden. Etwa 7000 mögen vor dem Einbruch der Deutschen geflohen sein. 38000, etwa ein Viertel der Bevölkerung der Stadt, sollten in einem Monat umgesiedelt werden.[25] Das zur Verfügung gestellte Areal war so klein, daß auf eine Person nur zwei Quadratmeter Wohnraum kamen. Die meisten Juden ließen den größten Teil ihrer Habe in ihren Wohnungen zurück. Viele versuchten noch möglichst viel zu verkaufen, von den Käufern, die sich die Notlage zunutze machten und die Preise drückten, weidlich ausgenutzt. Viele vermachten alles ihren Dienstboten, die dafür für Lebensmittel zu sorgen versprachen.

Das Stadtbild stand die folgenden Wochen unter dem Zeichen der Umzugswagen, die die Straßen füllten. Die Preise der Fuhren stiegen horrend. Sie fuhren hochbepackt mit dem nötigsten Hausrat, mit Brennholz und oft mit der ganzen Familie. Man sah Kranke, Mütter mit Säuglingen zwischen ihre Habe gepfercht. Die Gesunden gingen zu Fuß daneben. Das Wetter war herrlich. Seit dem deutschen Einzug ein sonniger Tag nach dem andern. Es war wie ein Hohn auf das Leid, das die Sonne beschien.

Man hatte eine Wohnungskommission gebildet, die für gerechte Verteilung sorgen sollte. Es gab nämlich neben den vielen ärmlichen Hütten einige große Häuserblocks mit neuen, modernen Wohnungen, auf die ein großer Ansturm war und deren Inhaber von den andern beneidet wurden. Bald sollte sich zeigen, daß es kein Gewinn war, eine solche Wohnung zu besitzen, und [daß] diejenigen, die sich mit möglichst bescheidenen begnügten, besser dran waren. Die Umzüge waren noch im Gange, und schon drangen deutsche Soldaten und litauische Partisanen in die neubezogenen Häuser, ganz besonders in die schönen, ein und nahmen sich dort, was sie nur wollten.

Am Sonntag gingen wir in den Wald, um für Tante Fischel Beeren zu suchen.»Geht nicht tief hinein in den Wald«, warnten uns die Anwohner,»dort gibt es noch versteckte Russen, die jeden erschießen, dem sie begegnen. «Wir fürchteten keine Russen. Schon an den Wegrändern wimmelte es von Erdbeeren, und unter den Fichten war es blau von Heidelbeeren. Hier schien noch niemand gesucht zu haben. Ob aus Furcht vor den versteckten Russen? Gretchen hielt sich dicht an mich, aber Marie verlor sich weiter. Ich mußte sie immer wieder rufen und suchen.

Sie hat auf einer moorigen Waldwiese ein Himbeergestrüpp entdeckt. Wir lassen uns Arme und Beine zerkratzen und pflücken, sitzen dann am Wegrand unter einer großen Kiefer, sitzen, wie wir hundertmal im Wald gesessen haben. Um uns summt und zwitschert es. Das Gras blüht und duftet, schöner, schöner Julisommer. Jetzt werden wir nach Hause gehen, und dort wird nicht, wie sonst, der Vater sein. Wir wissen nichts von ihm, nichts. Das Gefängnis ist voll von Juden. Ist er darunter, warum findet er keine Möglichkeit, uns eine Nachricht zu geben?

Am nächsten Tag hörte ich, wie bei Wanda ein Partisan erzählte, daß von den Juden auf dem VII. Fort fast keiner mehr da sei.»Wir haben sie totgeschossen«, sagte er ganz ruhig und gab sein Gewehr zum Spaß einem kleinen Kind in die Hand.»Willst du auch Juden schießen?«Aber das Kind stieß das Gewehr von sich und sagte:»Nein.«—»Das Kind ist besser als ihr«, sagte Wanda,»das weiß, daß es sündhaft ist, Menschen zu morden.«—»Juden sind keine Menschen«, antwortete der Partisan ruhig.

Marie hatte eine Stellung in einem Trust als Übersetzerin angenommen.[26] Deutsche Kräfte wurden sehr gesucht, und der Direktor war sehr zufrieden mit ihr.»Macht nichts, daß sie in der kommunistischen Jugend war, sie ist ein tüchtiges und liebes Mädel.«

Sie arbeitete täglich bis vier Uhr, dann aßen wir zu Mittag und waren froh, miteinander zu sein. Aber Marie hielt es nicht lange zu Hause. Sie hatte einen früheren Freund, einen jungen Arzt, wiedergetroffen, der, ein ernster und hochbegabter Mensch, erfüllt von den Ideen Tolstois, auf Marie tiefen Eindruck machte.[27] Nicht mit der Waffe siegen, sondern durch Liebe. Ein kleiner Kreis junger Menschen hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Ideen Tolstois zu verbreiten. Marie war ganz erfüllt von der neuen Mission. Alle Menschen, vor allem die Soldaten, müssen davon überzeugt werden, daß die Waffen nur Unglück bringen. Sie müssen so weit kommen, daß sie den Kriegsdienst verweigern.

Maries begeisterungsfähiges Herz war tief unter dem neuen Einfluß: Friede, Versöhnung, Liebe. Abends saßen wir auf der Veranda, und Marie erklärte glühend die neuen Ideen. Sie hatte schon mit verschiedenen deutschen Soldaten Bekanntschaft gemacht und nicht gezögert, sich ihnen mitzuteilen. Haben die Worte des heldenhaften jungen Mädchens so unmittelbaren Eindruck gemacht, oder war es ihre blühende Frische, der sie erlagen? – jedenfalls fand sich sofort eine Anzahl von Zuhörern, die ihr aus tiefem Herzen zustimmten.

«Sei vorsichtig, solche Reden werden mißverstanden, sind gefährlich«, warnte ich. Aber Marie nannte mich einen traurigen Realisten, der zu keiner Begeisterung fähig sei, und ich zweifelte manchmal, ob ich das Recht habe, diesen kühnen Schwung zu hemmen.

Ich war ständig um sie besorgt. Kam sie einmal abends nicht zur Zeit nach Hause, war ich in Angst um sie, ging auf die Straße. Auf und ab in Ungeduld. Da kommt sie endlich, bittet um Verzeihung. Sie wird mich nicht wieder warten lassen und fortan immer pünktlich kommen.»Geh nicht so viel aus, bleib mehr zu Hause. «Aber nein, es treibt sie ein junger Tatendrang, Idealismus, Lebenslust. Sie besucht ihre jüdischen Freundinnen, verspricht, auch weiter für sie zu sorgen, möchte überall helfen, zu allen gut sein. Sie [be]schafft Brot, Gemüse, Kartoffeln.

Eine neue Freundschaft, in Eile geknüpft, ein Soldat aus Berlin, Musiker. Ihn interessieren die litauischen Volkslieder, die oft abends in mehrstimmigen Melodien trotz Krieg aus den Gärten der Litauer schallen. Marie verbringt einige Nachmittage mit ihm, übersetzt dem jungen Mann die Texte ins Deutsche. Sie improvisiert geformte Nachdichtungen, denn sie kennt und liebt die litauische Dichtung und ist seit Jahren bemüht, litauische Gedichte und Novellen ins Deutsche zu übertragen und sie mit eignen originellen Zeichnungen zu illustrieren.

Er ist ganz bezaubert von der vermeintlichen Litauerin, denn Marie hält ihre Abstammung verborgen. Nach einer Woche muß er weiter zur Front und schreibt einen Abschiedsbrief, wie unendlich viele geschrieben worden sind, voll Sehnsucht nach Liebe und bleibendem Glück.

Es war ihr gegeben, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Es ist ihre Art, in allem, was sie ergreift, produktiv zu sein. Immer arbeitet ihre Phantasie, drängt, zu formen, zu gestalten. Das Leben ist ihr eine Reihe herrlicher Sensationen, sie ist jeden Tag gespannt, was er ihr bescheren wird. Sie ist gläubig, gläubig an den Sieg des Guten, kühn, tapfer, opferbereit.

«Sei vorsichtig«, warnte ich sie damals oft.»Sprich nicht offen mit jedem Fremden. Sei vorsichtig, vor allem mit den deutschen Soldaten. «Marie versprach es. Ich solle mir keine Sorgen machen. Sie wollte mir keine Sorgen machen.»Seufze nicht. Sei nicht traurig«, sagte sie mir oft, und wir lächelten einander an und verbargen uns gegenseitig den Schmerz über das dunkle, unfaßbare Verschwundensein des lieben Vaters.

Mit Gretchen war sie offener als mit mir. In ihr hatte sie eine vollkommene Vertraute, denn unsere Kleine mit ihrem tiefen, frühreifen Verständnis für alles Menschliche war mit ihrem kritischen Verstand der älteren Schwester überlegen. Ihre Schüchternheit, ihr Mißtrauen gegen Fremde, ihre klare Beobachtungsgabe waren eine vollendete Ergänzung zur intuitiven, gläubigen Schwester. Die langen, hellen Abende füllten sie mit ihren vertrauensvollen, innigen Gesprächen, bis Gretchen kindlich und schroff abbrach:»Jetzt schlafe ich ein.«

Aber Marie war zu erfüllt, zu bewegt von allem Geschehen und von der großen Idee, die zu verbreiten ihre Mission war. Während die Kleine schon schlief, kam sie mit ihrem Kopfkissen in mein Zimmer und machte sich auf dem Sofa ein Lager, und nachdem Gretchen die Vertraute ihrer persönlichen Angelegenheiten war, philosophierte sie mit mir über das große Gebot der Nächstenliebe und des wehrlosen Duldens[28]: die Soldaten aller Länder so überzeugen, daß sie den Krieg verweigern – dann wird kein beutegieriger Tyrann mehr Krieg führen können.

Sie war nicht zufrieden mit der Warnung ihrer Mutter, vorsichtig zu sein. So werde man nie etwas Großes erreichen. Der resistente Kampf der Sanften, Waffenlosen, der Liebenden, Verstehenden – müssen nicht Haß und völkischer Dünkel schmelzen, wenn der ewige Erlösergedanke sie anweht?

«Ich habe durch Viktor ein paar Soldaten im Lazarett kennengelernt. Wir haben sie besucht und mit ihnen gesprochen. Sie sind ganz einverstanden mit uns. Es ist so leicht, sie zu überzeugen. «Und alle diese Gespräche verschleierten nur den wilden Schmerz um unseren liebsten Menschen.

Um uns starrte die Welt in Grausamkeit, Haß und Mord. Man fühlte, wie das deutsche Regime nach einem genau ausgearbeiteten, bereits bewährten System arbeitete. Die Beschlagnahme der reichen Lebensmittel des Landes, die knappen Zuteilungen an die Bevölkerung, die Einstellung der Zivilisten in deutsche Dienste – alles vollzog sich lückenlos schnell, musterhaft ordentlich. Den Litauern imponierte diese Schneidigkeit. Sie beugten sich willig den harten Gesetzen, durch die sie jeder Freiheit und Selbständigkeit beraubt wurden.»Der Deutsche schafft Ordnung«– und sie spürten nicht, daß die gelobte Ordnung ihre Versklavung schaffte.

Man mußte stundenlang vor den Läden anstehen, um die Ration auf die Lebensmittelkarte zu bekommen. In Deutschland hatte man sich durch jahrelange Entwöhnung längst an einen bescheidenen Ernährungsstand gewöhnt. Hier kam der Umschwung ganz plötzlich. Die Märkte, die mit billigen, vorzüglichen Landwirtschaftsprodukten überfüllt gewesen waren, standen leer. Der freie Verkauf wurde verboten. Die Bauernwagen, die mit ihren Produkten in die Stadt gefahren kamen, wurden von Soldaten angehalten und beschlagnahmt.

Das Geld war gleich in den ersten Tagen entwertet worden, 10 Rubel = 1 Mark. Die Soldaten stürzten sich wie Heuschreckenschwärme in die Läden und kauften alles, was nicht rationiert war. Schokoladengeschäfte, Parfümerien waren in wenigen Tagen ratzekahl gekauft. Stoff- und Schuhgeschäfte, Haushalts- und Eisenwaren[läden] wurden geschlossen. Das Wort» Beschlagnahmt «prangte überall an den verschlossenen Ladentüren, während sich die neuen Herren bereits an die reichen Lager machten.

Von den Litauern hatten viele die Situation auch schon erfaßt und rafften noch vor Torschluß, was sie nur ergattern konnten. Sie waren so in Anspruch genommen, der neuen Situation möglichst viele Vorteile abzuringen, daß sie kaum gewahr wurden, was unterdessen mit einem Drittel der städtischen Bevölkerung, den 45000 Juden, geschah.

Die Umzugswagen fuhren von der Stadt über die Vilijabrücke nach dem Ghetto. Den Armen wurden von Reicheren Mittel für eine Fuhre zur Verfügung gestellt. Viele gingen mehrmals am Tage hin und zurück, um ihren Kram herüberzubringen. Aber jeder Brückenübergang war eine Gefahr. Man fing dort täglich Juden, um sie für verschiedene Arbeiten zu brauchen, zum Räumen von Schutt von bombenzerstörten Gebäuden, zum Reinigen von Kloaken, zum Verscharren gefallener Tiere und anderen unsauberen und schweren Arbeiten. Die Ostjuden entsprachen absolut nicht der allgemeinen Vorstellung der Deutschen. Sie waren ein gesundes, kräftiges und fröhliches Volk. Die Jugend war sportlich geschult, kannte keine Ausschweifung und Trunksucht. Die Deutschen staunten häufig über körperliche Kräfte und Ausdauer, die ihren Vorurteilen über die Juden nicht entsprachen.

Die Juden waren entrechtet, vogelfrei. In den Umzugswochen wurden Hunderte ohne jeden Grund ins Gefängnis geschleppt, in ihren alten oder neuen Wohnungen ausgeraubt und ermordet, geschlagen und gepeinigt. Den deutschen Soldaten wurde von ihren Vorgesetzten eingeschärft, daß sie mit ihnen nicht wie mit Mitmenschen zu verkehren hätten, sondern sie nur wie Sklaven zur Arbeit zu treiben hätten. Trotzdem gab es unter den Offizieren und den einfachen Soldaten manche, die sich den Verordnungen widersetzten, sie abmilderten und das Ihre taten, um den Juden ihr entsetzliches Los zu erleichtern.

Ein deutscher Offizier nahm sich einmal einer schwangeren Jüdin an, die in einem Laden in der Reihe stand und vom Pöbel verdrängt wurde, indem er vom Verkäufer verlangte, daß man sie vor den andern bediene. Als die junge Frau ihm danken wollte, verschwand er mit kurzem Gruß. Die Menge gaffte verwirrt.

Die Frage der Halbjuden und der Juden fremder Staatsangehörigkeit war vorläufig ungeklärt. Wir waren in besonderer Sorge um ein junges Musikerehepaar, im Alter zwischen uns und den Kindern stehend und mit uns allen vier seit Jahren gleichermaßen befreundet. Edwin Geist war Berliner: Komponist, Dirigent und Pianist. In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes hatte er sich als Halbjude halten können. Er hatte als Mitglied des deutschen Musikerverbandes die besten Empfehlungen, und eine Oper von ihm erlebte 1934 ihre Erstaufführung in Berlin. Als sich die antisemitischen Gesetze mit den Jahren verschärften, wurde er allmählich überall verdrängt. Bei einem Besuch bei seinen Freunden in Kaunas lernte er seine Frau kennen. Nach einem Jahr kam er wieder, heiratete sie und blieb hier. Der wohlhabende Schwiegervater war sehr unzufrieden über die Ehe seiner Tochter mit einem armen Künstler, wollte nichts geben, und da ein litauisches Gesetz Ausländern jeden Broterwerb verbot, mußten sie sich durch Musikstunden ein sehr kärgliches Brot verdienen.

Der Nationalsozialismus warf seine Schatten auf die kleinen Nachbarländer. Es wimmelte von Agenten, und man verschärfte die Maßnahmen gegen die Ausländer. Sie durften nicht mehr in Kaunas wohnen, und so wurde auch unser unschuldiger Edwin gezwungen, sich ein Zimmer in einem kleinen Städtchen zu nehmen. Es war ein mühsames Leben, das die beiden führten, ein schwerer Kampf um das tägliche Brot. Die hiesigen Musiker verkannten den originellen Künstler. Sie sahen in ihm nur den Ausländer und Sonderling. Dazu kam noch die Angst vor der Polizei, denn meistens blieb Edwin illegal in der Stadt bei seiner Frau oder auch bei uns.

Die Einreihung Litauens in die Sowjetrepublik 1940 machte den Sondergesetzen für die Ausländer ein Ende. Man wertete die Menschen nicht mehr nach ihrer Nationalität, sondern nach ihrer Leistung. Edwin Geists Kompositionen wurden im Radio aufgeführt, eine begabte Sängerin sang seine Lieder, er dirigierte ein Konzert in Wilna, und man hätte ihm dort oder in Kaunas gern eine feste Stellung als Dirigent gegeben, wenn er imstande gewesen wäre, eine der Landessprachen, Litauisch, Russisch oder Polnisch, zu erlernen. Er sprach aber nur sein kräftiges Berlinisch, gespickt mit derben und skurrilen Ausdrücken. Als echte Künstlernatur war er Genießer, freute sich mächtig, wenn man ihn gut bewirtete, und wurde bei Wein und gutem Essen so witzig und unterhaltend, daß er die ganze Gesellschaft ansteckte. Aber wehe, wenn ihm die Gesellschaft nicht gefiel, wenn irgend etwas sein subtiles ästhetisches Gefühl störte. Dann konnte er einen ganzen Abend trübe vor sich hinstarren und der liebenswürdigen Wirtin, die ihn zum Tanzen aufforderte, brüsk den Rücken kehren.

Er wohnte mit seiner Frau Lyda in einem unschönen, einfenstrigen Zimmer, das ganz vom Klavier ausgefüllt zu sein schien. War er bei Stimmung, so spielte er aus seiner Oper vor, sang alle Rollen, erklärte und mimte dazwischen, und seine junge, schöne Lyda mußte mitspielen. Sie war auch Pianistin und war, wie es Gott von der ersten Frau, die er geschaffen, verlangt hatte, eine wahre Gehilfin ihres Mannes.

Dieses eine glückliche Jahr, das zwar wenig Erfüllung gebracht hatte, aber voll blühender Ansätze und hoffnungsvoller Träume gewesen war, [ging] zu Ende. Lydas Vater war in den ersten Tagen der Okkupation von den Häschern ergriffen worden und seitdem verschwunden. Lyda wollte die verzweifelte Mutter nicht allein lassen, verbrachte den halben Tag bei ihr. Was sollte aus ihnen werden? Edwin als Reichsdeutscher[29] und Halbjude würde vielleicht nicht dem Ghettogesetz unterstehen. Lyda redete ihm zu, hierzubleiben. Es werde ihr leichter, allein, als mit ihm zusammen, das schreckliche Los auf sich zu nehmen. Sie kam zum erstenmal mit dem gelben Stern zu uns. Marie umarmte sie zärtlich, tröstete sie, sie solle ihren Edwin nur unserer Fürsorge überlassen. Wir besuchten sie oft.

Am 3. August war Sonntag. Wir beschlossen, noch einmal zu dritt in unsern Wald zu gehen. Wir wollten Beeren für Edwin und Lyda suchen. Das Wetter war dunstig, als ob es regnen würde, ganz windstill, schwül. So hielt es sich den ganzen Tag. Wir suchten wieder mehrere Körbchen voll. Mittags fielen ein paar Tropfen, dann hellte es sich auf.»Das ist eine gute Vorbedeutung«, sagte Marie, und auf dem Nachhauseweg führten wir wieder unser Lieblingsgespräch: Wir dachten uns die Welt aus, die vom» Gesetz des Guten «regiert würde, und wie jeder Mensch darin seinen richtigen Platz finden würde, ohne daß Zwang und Strafe nötig sei.

Marie ging noch gegen Abend zu Geists und brachte ihnen ein Körbchen Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren gemischt. Es duftete herrlich. Als sie nach Hause kam, schalt ich sie, daß sie so spät gekommen. Marie versprach, keinesfalls wieder nach neun Uhr zu kommen. Ich solle ihretwegen keine Sorgen haben.

«Der Dienst im Büro ist langweilig«, erklärte sie immer nach Kontorschluß. Wenn sie doch eine andere Arbeit finden könnte. Sie wollte so gern Krankenschwester werden oder studieren. Ich vertröstete sie auf später.»Jetzt müssen wir uns möglichst unscheinbar machen. Ihr seid beide jung und werdet noch bessere Zeiten erleben. «Wir saßen an diesem Abend noch lange zu dritt auf dem Balkon und sprachen vertraut und innig miteinander.

Am nächsten Tag ging Marie am Nachmittag wieder fort. Sie habe eine Verabredung mit ihrer Kollegin Nina, der sie deutsche Stunden gebe. Es wurde Abend. Marie war noch nicht zurück. Schon nach neun. Ich stand am Pfosten des Gartentors, sah nach rechts und links, lief die Straße herauf und herunter. Gretchen kam dazu. Das Warten wurde immer angstvoller. Sie hatte so fest versprochen, nicht spät zu kommen. Es wurde allmählich dunkel. Von fern kam eine eilige, helle Gestalt die Straße herauf – nein, sie ist es nicht. Immer weniger Menschen gingen. Wir sahen schon nicht mehr viel, hörten nur gespannt auf sich nahende Schritte. Es schlug zehn. Nach zehn Uhr war strenge Polizeistunde. Noch eine Viertelstunde warteten wir, dann gingen wir schweigend ins Haus.

Qualvolle Nacht, qualvoller Tag. Ich ging am nächsten Morgen in ihre Dienststelle. Niemand wußte etwas. Marie sei am gestrigen Nachmittag nicht bei ihr gewesen, sagte Nina. Ich bat den Direktor, die Polizei anzurufen. Er lehnte kühl ab. Er wolle damit nichts zu tun haben. Ich lief zu Maries Freunden. Keiner hatte sie gesehen.

Am nächsten Morgen ging ich in das litauische Polizeipräsidium. Mußte lange in einem Vorzimmer warten, bis ich vorgelassen wurde. Ein junger Beamter blätterte in einer Liste. Ja, vorgestern, am 4. August, sei Marie Holzman verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert worden. Er versuchte mich zu beruhigen. Es würden jetzt viele verhaftet und, falls nichts vorläge, wieder freigelassen. Allerdings, wenn sie dem Komsomol angehört habe, so sei das schon schlimmer. Ich solle ihr aber jedenfalls morgen, Donnerstag, etwas zu essen bringen.

So schrecklich die Tatsache war, so war ich doch etwas durch den freundlichen Beamten beruhigt. Nun wußte ich doch wenigstens, wo sie meine Gedanken finden konnten. Ich eilte, um auch Gretchen die Qual der Ungewißheit zu nehmen. Am nächsten Morgen packten wir ein Körbchen mit Eßwaren: Butter, vier hartgekochte Eier, Wurst, Zucker, Johannisbeeren, Brot. Gegenüber vom Gefängnis war ein großer Hof. Dort stand schon eine große Menschenmenge, meist Frauen mit ihren Gaben für die Gefangenen. Wir stellten uns in die Reihe.

Viele kannten sich schon untereinander. Sie trafen sich jeden Donnerstag hier, und da man stundenlang anstehen mußte, war Zeit, sich gegenseitig das Herz auszuschütten. Wir wurden auch gleich gefragt, wen wir im Gefängnis hätten. Alle waren hier Leidensgefährten und hatten Verständnis für die Sorgen des Nächsten. Aber wir hatten unsere besondere Sorge, die wir verschwiegen.

Die meisten brachten ihren Männern, manche den Söhnen, den Vätern. Viele waren vom Lande, manche waren bis vierzig Kilometer weit mit ihren Fuhren gekommen. Die Pferde standen auch im Hof unter einem großen Baum. Es war sehr heiß. Für die Wartenden gab es kein Schattendach. Endlich rückten wir an den Schuppen heran, wo die Gaben registriert und in Empfang genommen wurden. Holzman? Das ist doch ein jüdischer Name. Juden werden [an] einem anderen Tag behandelt. – Nein, ein deutscher! sagte ich. Der Beamte suchte in seinem großen Buch, fand, notierte, gab eine Nummer. Mit dieser mußte man in einem anderen Schuppen anstehen. Unser Mitgebrachtes wurde gewogen. Es wurde nicht mehr als zwei Kilo angenommen. Brot, Butter wurden zerschnitten und untersucht, ob sich nichts Unerlaubtes darin befände. Dann mußten wir mit einem Träger, einem jungen Menschen, über die Straße bis zum Gefängnistor mitgehen. Dort sollten wir warten.

Viele andere warteten mit. Die meisten hatten schon Erfahrung. Es schien endlos lange zu dauern. Wenn man sie nur nicht als jüdischer Abstammung gerechnet hat! Dann wird man es nicht annehmen. Gretchen und ich standen und preßten uns gegenseitig die Hände. Die Angst, diese entsetzliche Angst, immer wieder wegen dieser einen Sache, unserem schrecklichen Geheimnis. Da kam der Bote, gab uns unsere leere Tasche und ein Zettelchen, auf dem Marie ihren Namen geschrieben.»Sie hat sich so gefreut«, sagte er,»wollte mehr schreiben, aber das ist streng verboten. «Dieser unmittelbare Gruß bewegte uns sehr. Wir gingen beruhigt nach Hause.

Von dieser Zeit an lebten wir nur von einem Donnerstag zum andern. Die ganze Woche sammelten wir Nahrhaftes und Leckeres in unsere bastene Einkaufstasche. Am schwersten war, Butter oder Speck zu bekommen, aber es gelang doch jedesmal, und auch Süßigkeiten erstanden wir. Und jedes Mal das stundenlange Anstehen auf dem großen, sonnigen Hof, die rauhen Beamten, die die Bangenden duzten und halb wie Sträflinge behandelten. Das bange Warten auf das tröstende, lebendige Zeichen. Auf litauisch:»Maryte Holcmanaite«. Ich studierte es jedesmal, um ihre Stimmung daraus zu ersehen. Wird meine Kleine ihren Mut, ihre Zähigkeit behalten? Wird sie die Qual des Kerkers tapfer tragen?

Unterdessen hatte ihr Freund Viktor erfahren, daß sie an jenem verhängnisvollen Tage im Lazarett gewesen war, um die ihr schon bekannten deutschen Soldaten zu besuchen. Das Gespräch sei wieder auf das alte Thema gekommen: Friede um jeden Preis. Ein deutscher Stabsarzt habe das gehört, sich selbst ins Gespräch gemischt. Er verdächtigte die junge Friedensapostelin als Agentin des Feindes und ließ sie verhaften.

Ich lief wieder zur Polizei. Man sei hier nicht zuständig, ich solle mich an die deutsche wenden. Dort war man unfreundlich. Man erinnerte sich, daß ich schon oft wegen meines Mannes gekommen war. Man werde untersuchen, ob meine Tochter wirklich so unschuldig sei, wie [sie] behauptete. Ich brauche nicht wiederzukommen, das werde nichts helfen. Ich hatte ein böses Gefühl, als ich von dort kam, diese harten, fanatischen Gesichter, der kalte, schneidige Ton, die verhaßten Parteiuniformen mit dem scheußlichen Hakenkreuz. Diese Menschen reden unsere Muttersprache, und dennoch ist es ganz hoffnungslos, sich mit ihnen zu verständigen. Man kann sie nur meiden, fliehen, davonlaufen. In ihren Händen ist meine Marie.

Unterdessen hatte die deutsche Zivilverwaltung mit ihrem großen Troß von Angestellten von der Stadt Besitz ergriffen. Sie nahmen sich die Wohnungen der Juden. Viele jüdische Familien, die noch nicht umgezogen waren, wurden aus ihren Wohnungen herausgejagt. Alles, was den neuen Bewohnern gefiel, mußten sie darin zurücklassen, so daß vielen Juden kein oder nur ganz wenig Hausrat blieb. Für alle jüdischen Angelegenheiten wurde eine Persönlichkeit eingesetzt, die die Ironie des Schicksals nach dem Fluß des Gelobten Landes benannt hatte: er hieß Jordan.[30] Zu ihm kamen alle, deren Zugehörigkeit zum jüdischen Volke nicht geklärt war, die zum Teil bisher keinen gelben Stern getragen hatten und nicht ins Ghetto gezogen waren, die Halbjuden, die Mischehen, die Angehörigen neutraler Länder. Jordan empfing sie persönlich, ließ sich den Fall kurz vortragen und schrie sie dann an: Sofort ins Ghetto!

Ich suchte nach Menschen, die uns helfen könnten. Aber zu wem ich auch kam, alle hatten Angst, bei der Gestapo auch nur den Versuch einer Vermittlung zu machen. Den Litauern gefiel zwar das Auftreten der Deutschen nicht, aber es imponierte ihnen und schüchterte sie zugleich ein. Ich wurde überall teilnahmsvoll angehört und mit bedauernden Worten abgewiesen. Mein Mann war allen gebildeten Litauern bekannt gewesen und überall hoch geachtet. Auch Marie hatte viele Bekannte, und alle hatten sie gern. Aber jetzt wollte keiner etwas riskieren. Auch ihre Dienststelle lehnte jede Vermittlung ab.

Als ich Edwin und Lyda von unserer Marie erzählte, antwortete Lyda mit gleicher Schreckensnachricht: ihre Mutter war ausgegangen und hatte vergessen, den gelben Stern anzustecken. Sofort wurde sie verhaftet und ins Gefängnis geführt. Lyda brachte ihr einmal Essen. Die zweite Woche nahm man für Juden nichts mehr an.

[Bei] Edwins deutschem Paß war der Gültigkeitstermin abgelaufen. Er wagte nicht, auf die Straße zu gehen, wagte auch nicht, um eine Verlängerung anzugehen. Schließlich machte er sich zu Jordan auf. Der war gerade nicht zu sprechen. Eine freundliche Sekretärin versprach, den Fall so vorzutragen, daß er möglichst günstig aussehe. Er solle in ein paar Tagen wiederkommen. Wir machten uns schon Hoffnungen. Das nächste Mal wurde Edwin von Jordan selbst empfangen.»Sie sind Mischling ersten Grades? Verheiratet mit einer Jüdin, also Jude. Marsch ins Ghetto! Und daß Sie nicht wagen, ohne Stern auf die Straße zu gehen!«

Damit waren die Hoffnungen zu Ende. Lyda suchte eine Wohnung im Ghetto. Die besseren waren unterdessen besetzt. Sie hoffte, daß auch die Mutter mit ihnen wohnen würde. Schließlich fand sie ein Stübchen. Ich war fast jeden Tag bei ihnen, half ihnen, einen kleinen Vorrat an Lebensmitteln zu sammeln, besorgte Kerzen, Zigaretten, einen elektrischen Kocher. Einen Teil ihrer Sachen ließen sie bei Bekannten, bei der Dienstmagd ihrer Hauswirte.

Der Weg zum Ghetto war weit. Sie wohnten am andern Ende der Stadt. Es war unendlich ermüdend, auf dem holprigen Kopfsteinpflaster zu gehen.[31] Einmal kam sie ganz gebrochen nach Hause. Ihr schönes, beseeltes Gesicht von tiefstem Leid gestempelt. Sie hatte, da ihre Kräfte in der heißen Sonne versagten, einen Fuhrmann gebeten, sie mitfahren zu lassen. Der Weg führte am Gefängnis vorbei. Dort hielt sie ein Wächter an:»Herunter vom Wagen, du Judschke. Ihr Juden habt Jesus ans Kreuz geschlagen, dafür muß man euch bestrafen. «Wir weinten zusammen über die hoffnungslose Grausamkeit und Verblendung der Menschen.

Der Umzug der Juden näherte sich seinem Abschluß. Einige Straßen, die schon bezogen waren, mußten wieder geräumt werden, da man [das] Ghetto verkleinerte. Die Juden mußten es selbst mit Stacheldraht einzäunen. Der Plan einer Mauer, den man anfangs hatte, wurde wieder aufgegeben.

Einige Tage vor Schluß[32] gingen Gretchen und ich dorthin, um unsere alten Zinghaus zu besuchen. Seit dem Tage des Einzugs der Deutschen war jeden Tag strahlendes Wetter. Es war wie ein Hohn auf das Leid, das die Sonne beschien. Die Ufer der Vilija lagen in mildem Licht. Viele Menschen gingen über die Brücke, ruhig, gleichgültig, unberührt vom Schicksal der hinter den Stacheldrahtzaun Verbannten.

Der Zaun war damals noch nicht überall geschlossen. Wir gingen außerhalb des Zauns am Ufer entlang. Dort arbeiteten Straßenarbeiter, kräftige, fröhliche Gesellen, unbekümmert um die Schicksale jenseits des Zaunes. Wir gingen beklommenen Herzens hinein. Dort in einem kleinen Holzhäuschen wohnte ein Geiger mit seiner Familie.[33] Er stand vor dem Haus. Wir begrüßten ihn, traten in das Gärtchen. Rote Rüben, Kohl, Tomaten, Blumen wuchsen dort.»Nicht für uns«, erklärte er.»Der frühere Bewohner holt sich das Gemüse.«

Er wohnte zusammen mit einer zweiten Familie in dem winzigen Häuschen. Der Großvater schlief auf einer Pritsche in der Küche. Die Kleinheit der Stuben hatte wenigstens den Vorteil, daß jede Familie einen Raum für sich hatte. Es kamen noch andere Bekannte dazu. Was wird werden? Was wird werden? Auf diese bange Frage wußte keiner eine Antwort.

Wir suchten Zinghaus’ Wohnung. Sie lag in einer Siedlung von Arbeiterhäusern, kleinen Steinhäusern ohne Kanalisation und Wasserleitung, aber ziemlich neu und sauber. Wir trafen unsere Freunde nicht zu Hause. Frau Zinghaus’ Schwester führte uns herein. Es war nur für einen winzigen Tisch Platz. Man saß auf den Koffern. Wenn man uns nur in Ruhe läßt, sagte die alte Dame, dann werden wir uns an dieses ärmliche Leben gewöhnen. In allen war ein böses Vorgefühl.

Auf dem Rückweg trafen wir Zinghausens.»Nach den neuen Verordnungen müßten Sie auch ins Ghetto. Lesen Sie den Anschlag am Tor des großen Häuserblocks. «Wir lasen:»Nichtjuden, die mit Juden verheiratet sind, und Halbjuden unterstehen den Judengesetzen und müssen ins Ghetto ziehen. Die Nichtbefolgung dieses Gesetzes zieht die schärfsten Strafen nach sich.«

Wir hatten nicht mehr die Kraft, uns mit unseren Freunden aufzuhalten. Das Herz klopfte uns bis zum Halse. Es war auf einmal dämmrig und kühl geworden. Wir eilten fort. Grüße von einigen Vorübergehenden beachteten wir kaum. Wir liefen über den großen Platz, der in der Mitte des Ghettos liegt. Krähen flatterten hoch und setzten sich auf die hohen Bäume, die den Platz begrenzten.

Also auch wir, auch wir gehören zu den Ausgestoßenen. Jetzt wissen wir es. Es gibt kein Entweichen. Wahrscheinlich wird dieses neue Gesetz schon heute auf Extrablättern in der Stadt bekanntgemacht werden. Wir hielten uns an den Händen, spähten nach neuen Anschlägen. In einem Gäßchen in der Altstadt trafen wir einen Bekannten.[34]»Sie müssen auch ins Ghetto«, sagte er.»Ich habe meine Frau und Kinder schon dorthin gebracht. Ich selbst unterstehe dem Gesetz nicht, denn ich habe mich schon in Vorahnung künftiger Konflikte vor Jahresfrist pro forma von meiner jüdischen Frau scheiden lassen. «Die Verordnung scheint also schon stadtbekannt zu sein.

Als wir zu Hause ankamen, war es schon dunkel. Wir machten Licht und gingen durch unsere schöne Wohnung, die wir nun in wenigen Tagen verlassen sollten. Unsere kleinen Vorräte hatten wir schon verteilt. Wo sollten wir anfangen, was mitnehmen? Und vor allem: wer würde für Marie sorgen?

Wir konnten uns auch am nächsten Tag nicht entschließen, etwas zu packen, für eine Wohnung zu sorgen. Geists, die bis zum letzten Tag in der Stadt bleiben wollten, konnten bei allem Mitgefühl ihre Freude nicht verhehlen.»Mit euch zusammen wird uns dort alles leichter sein. «In der Zeitung oder durch Anschläge war die verhängnisvolle Verordnung noch nicht bekanntgegeben. Wir ließen die Stunden ungenutzt, waren wie gelähmt.

Am 14., einen Tag vor dem Schlußtermin, ging ich in die Stadtverwaltung zu einem mir bekannten höheren Beamten. Auf meine Frage, was tun, schwieg er. Ich werde es bei Jordan selbst versuchen. Im neu errichteten Stadtkommissariat saßen deutsche und litauische Beamte. Ich fragte mich durch die vielen Gänge, wollte auch hier erst noch mit einem Litauer sprechen. Niemand wisse genau in solchen Zweifelsfällen Bescheid, nur Jordan selbst könne sie entscheiden.

Vor Jordans Zimmer stieß ich auf den Rechtsanwalt Stankevičius. Er warnte mich dringend, hereinzugehen. Eine Frage sei dort gleichbedeutend mit einer negativen Antwort. Bevor in der Stadt keine öffentliche Bekanntmachung erfolgt sei, solle ich nichts unternehmen. Ich solle nach Hause gehen und abwarten.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ein zierlicher Mensch mit auffallend kleinem Kopf, bleich, mit wäßrigen Augen, verkniffenem Munde kam heraus, ging, ohne uns zu beachten, vorbei. Es war Jordan.

Ich fühlte mich einer großen Gefahr entronnen. Gretchen und ich beschlossen, wir werden auf jeden Fall hierbleiben, mag kommen, was will. Wir müssen in der Nähe von unserer Marie bleiben.

Viktor kannte eine der Gefängniswärterinnen und vermittelte durch sie eine illegale Verbindung mit unserer Gefangenen. Wir schickten ein paar Äpfel, ein Butterbrot, Süßigkeiten und schickten und erhielten vor allem kleine Briefchen. Da auch die Beamten streng kontrolliert wurden, konnte das alles nur selten und mit großer Vorsicht geschehen. Diese spärlichen Nachrichten bildeten den Mittelpunkt unseres Lebens. Zwei dieser Zettelchen in winziger Schrift sind erhalten geblieben.[35]

Ihr Lieben!

Ich will ja gerne geduldig sein, wenn ich nur wüßte, ob und wann das ein Ende nehmen soll und wie dieses Ende wohl aussehen mag. Die Gefängnisadministration weiß nicht, wozu ich hier bin, ich auch nicht, und mein Untersuchungsrichter, der sich übrigens seit vier Wochen nicht mehr um mich gekümmert hat, weiß es sicher auch nicht. Ihm kommt es gar nicht darauf an, ob ich schuldig bin oder nicht, sondern daß ich schuldig bin. Mir ist keine Schuld gesagt worden, kein Urteil gefällt. Wenn es irgend geht, rüttele die Leute etwas auf, aber wenn Ihr nicht helfen könnt, so grämt Euch nicht zu sehr darüber, ich halte es schon aus hier, habe aber sehr Angst vor dem Winter. Wenn nicht die Donnerstage wären! Aber die wöchentlichen Zeichen, wie sehr Ihr an mich denkt, helfen mir, wenigstens äußerlich geduldig und stark zu sein. Daß auch Ihr es sehr schwer habt, beunruhigt mich sehr. Ich würde furchtbar gerne wissen, welcher Art diese Schwierigkeiten sind, ob Ihr mir nicht zu heldenhaft seid, ob Ihr Arbeit habt, satt seid. Hungert nur nicht, um mir schicken zu können: ich arbeite ja nicht. Über Brot, Butter und Äpfel freue ich mich am meisten. Über die Wurst und dergleichen auch, aber ich denke, Ihr solltet sie selber essen. Nach den Brotrationen zu urteilen, die immer kleiner, nasser und kartoffeldurchmengter werden, ist alles auch bei Euch knapp. Zucker sollt Ihr nie schicken. Die laue, graue Brühe, die wir am Morgen bekommen, ist keinen Zucker wert. Die Suppen zu Mittag und Abendbrot sind aber gut warm und durchaus eßbar, vor allem, wenn Kartoffeln drin sind. Ich freue mich sehr, eine Handarbeit von Euch zu bekommen. Ich glaube, ich werde in der nächsten Woche Gretel eine Schürze schicken können. Der Gedanke daran erfüllt mich mit großer Freude, denn es ist sehr schwer, und Stoff- und Fadenbeschaffung dauerte Wochen. Da ich ohne Kenntnisse der Zuschneide- und Nähkunst bin, müßt Ihr über die Mängel eben hinwegsehen. Das Sticken macht mir besonders Freude und der Gedanke, Euch ein Zeichen meiner großen Liebe und Sehnsucht zu schicken. Versucht doch öfters mal, wenigstens mit einem Gruß den Weg durch Viktor zu benutzen. Im Laufe dieses Monats oder Anfang des nächsten wird meine Kammergenossin wohl frei und besucht Euch. Wenn Ihr den Zettel gefunden habt, näht ein rotes Kreuzchen auf irgendein Kleidungsstück und schickt Donnerstag. Ich liebe Euch unsäglich.

Marie

Schickt ein Spiegelchen.

Der zweite Zettel ist auf der einen Seite litauisch an Viktor geschrieben.

Lieber Viktor,

bitte seien Sie so gut und geben Sie meiner Schwester das Geburtstagsgeschenk. Sagen Sie ihr und Mama, daß ich große Sehnsucht nach ihnen habe, aber ich verspreche, stark und geduldig zu sein. Trösten Sie sie, daß sie meinetwegen nicht zu sehr leiden. Ihre wöchentliche Donnerstagssendung ist jedesmal für mich wie Weihnachten. Es würde schön sein, wenn ich durch die Gefängnisverwaltung zehn Mark geschickt bekommen könnte, damit ich mir wenigstens das Nötigste kaufen könnte. Ich denke oft an Sie. Es ist doch gut, Freunde jenseits des Gitters zu haben.

Ihre Maryte.

Der Brief auf der andern Seite ist für mein Schwesterchen.

Liebes, liebes Gretelchen,

das Hemdchen und Leibchen mußt Du schon als eine Art vorzeitiges Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk ansehen. Wenn Du wüßtest, mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren es zustande gekommen ist, würdest Du über ihre vielen Mängel etwas hinwegsehen. Dafür mußt Du mir versprechen, aufzupassen, daß Mutter keine Weintrauben und keinen Zucker schickt, und von allem andern nur so viel, daß Ihr vorher wirklich satt seid. Ich muß ja heulen, wenn ich esse und denke, Ihr Pelikane[36] zu Hause arbeitet Euch hungrig für mich ab, und ich esse und arbeite nichts. Dafür würde ich mich sehr über Stoff (eventuell schon zugeschnitten als Nachthemd, Schürze oder Blüschen für Dich) freuen, und wenn Ihr, falls Ihr habt, bunte Garne zum Sticken schicktet oder irgendeine Handarbeit. Wenn die Patiencekarten die Sperre passierten, dürfte ich sie sicher behalten. Sage Mutter, daß ich die siebente Woche seit dem letzten auch völlig ergebnislosen Verhör bin, ohne Urteil und ohne daß sich seitdem jemand um mich gekümmert hat. Vielleicht kann sie die Leute etwas aufrütteln. Untersucht immer alle Strümpfe, die ich schicken werde, und die grauen Socken, die ich schickte. Ich liebe Euch unsäglich.

Marie

Sie schrieb uns, daß sie gebeten habe, sie zu verhören. Sie wurde in die Gestapo geführt. Dort legte man ihr Fotos irgendwelcher der kommunistischen Konspiration verdächtigter Personen vor. Marie beteuerte, keinen zu kennen. Sie habe sich in dem Jahr der Sowjetregierung nicht politisch betätigt. Sie habe neben ihrer Bürostellung die Abendschule besucht und ihr Abitur gemacht. Als Komsomol habe sie sich einmal wöchentlich abends mit einer Kindergruppe beschäftigt. Dort habe man gehandarbeitet, vorgelesen, gesungen, Theater gespielt. Spionage habe sie nie getrieben. Die Wärterin berichtete Viktor, daß sie sehr deprimiert zurückgekommen sei. Sie fühle, daß man ihr nicht glaube, daß man ihre Worte mißverstehe, daß man sie für raffiniert und verstellt halte.

Ich suchte verzweiflungsvoll nach einem Menschen, der mit seiner Fürsprache die Mißverständnisse aufklärte. Ich ging zu verschiedenen deutschen und litauischen Leuten, die mit der deutschen Polizei in guten Beziehungen standen, aber keiner wollte es riskieren, sich ihrer Sache anzunehmen.

Da hörte ich, daß der Rechtsanwalt Baumgärtel, der früher in Kaunas gelebt hatte, zurückgekommen sei und in der Zivilverwaltung beim Generalkommissariat arbeite. Ich kannte ihn als warmherzigen Menschen, aber großen Antisemiten. Ich hatte Bedenken, zu ihm zu gehen. Wie wird er sich jetzt als nationalsozialistisches Parteimitglied und Beamter des Dritten Reiches zu mir stellen?

Beim Eintritt in das Verwaltungsgebäude mußte ich meinen Paß vorzeigen, wurde eingehend gefragt, was ich bei Baumgärtel wolle, bekam dann einen Zettel, auf dem die genaue Zeitangabe stand, und eine bewaffnete Begleitung bis zu Baumgärtels Tür. Ich zögerte bangen Herzens, ehe ich klopfte. Baumgärtel sprang auf, begrüßte mich äußerst herzlich, war voll Teilnahme für mich, überlegte, wie er mir helfen könne. Er versprach, selbst in die Gestapo zu gehen, zu sagen, daß er unsere Familie persönlich kenne und der Verdacht politischer Konspiration hinfällig sei. Er wolle bitten, den Fall möglichst schnell zu behandeln und eine eventuelle Strafe gering zu bemessen.

Wir sprachen lange miteinander. Er äußerte sich sehr kritisch über» das nationalsozialistische Regime«.»Wir Älteren«, sagte er,»sind uns alle einig, aber es herrscht der größte Terror, und niemand wagt, den Mund aufzutun. Wir Deutschen sind ja leider ein feiges Volk.«

An dieses letzte Wort mußte ich später noch oft denken. Wir verabschiedeten uns sehr freundlich. In zwei bis drei Tagen solle ich wiederkommen und erfahren, was er ausgerichtet. Als ich dem Türposten meinen Begleitzettel abgab, bemerkte er mißfällig, daß ich mich fast eine Stunde aufgehalten habe.

Ich ging ganz verändert nach Hause. Ich malte [mir] schon das Wiedersehen mit unserer Liebsten aus, wie wir drei dann noch viel inniger, einander ganz, ganz nah sein würden, uns einig in unserer Trauer um den Vater und unserer gegenseitigen Liebe. Ich wartete mit Ungeduld auf Gretchens Heimkehr, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen.

Inzwischen hatte sie eine Stelle in einem Übersetzungsbüro angenommen. In die Schule würde sie nicht mehr gehen, und sie wollte auch zur Erhaltung unseres kleinen Haushalts und der Sorge um die Schwester beitragen. Sie hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Sie war kein fünfzehnjähriger kindlicher Backfisch mehr, [sondern] ein ernster Mensch, ein Kamerad.

Da sie noch jünger aussah, als sie war, hatte man nicht viel von ihr erwartet und sie erst nur probeweise angestellt. Sie arbeitete sich aber sehr schnell ein, lernte abends noch Maschineschreiben, und da sie beide Sprachen, Deutsch und Litauisch, sehr gut kannte, galt sie bald als beste Übersetzerin.

Nach drei Tagen passierte ich wieder den Türposten des Generalkommissariats. Auf dem Gang begegnete mir Baron von Grotthus in brauner Uniform mit der Hakenkreuzbinde. Er grüßte mich nicht. Baumgärtel empfing mich vollständig verändert. Er war hastig, aufgeregt.

«Ich hatte schon Angst, daß man Sie verhaftet hat, weil Sie gestern nicht gekommen sind. Ich habe mich indirekt erkundigt und erfahren, daß Sie auf der Schwarzen Liste stehen. Leider ist es unmöglich, jetzt für Ihre Tochter das geringste zu tun. Sie selbst sind in größter Gefahr. Sie müssen sofort mit Ihrer jüngeren Tochter fliehen. Ich rate Ihnen, nach Deutschland zu gehen. Dort wird man Sie nicht suchen, und Ihre zahlreiche Familie wird Ihnen helfen. Versuchen Sie, von einem Postauto illegal über die Grenze genommen zu werden, oder zu Fuß als Bäuerin. Hier haben Sie für die weitere Reise etwas Geld. Ich mahne Sie ganz dringend, sofort aus Kaunas zu verschwinden.«

Er drückte mir achtzig Reichsmark in die Hand und verabschiedete mich. Ich fühlte, daß er [sich] fürchtete, länger mit mir zu sprechen. Ich ging langsam die Treppe herunter. Der Türposten konnte sich diesmal nicht über meinen zu langen Aufenthalt beschweren.

Man sucht mich. Vor dem Eingang hielt ein Auto. Der Uniformierte, der heraussprang, kam auf mich zu. Jetzt verhaften sie mich, dachte ich.»Verstehen Sie deutsch? Können Sie mir sagen, wie ich zur Feldkommandantur komme?«

Ich holte Gretchen aus dem Büro ab und nahm sie mit mir nach Hause. Ich war nicht aufgeregt und bemühte mich, meine Kleine nicht zu sehr zu erregen. Trotz der Warnung blieben wir die Nacht in unserer Wohnung. Am nächsten Tag sprach ich kurz mit unserer Hauswirtin, die von Beginn unseres Unglücks teilnahmsvoll und hilfsbereit gewesen war. Wir wollten uns vorläufig in der Stadt verstecken. Ich gab ihr einige wertvolle Sachen zur Aufbewahrung. Wenn man nach uns frage, solle sie nicht wissen, wo wir sind. Grete ging in den Dienst. Dort wird man sie bestimmt nicht suchen.»Finde ein Versteck«, bat sie beim Weggehen. Ich stand auf der Straße und wußte nicht, was tun.

Sie zerstören uns, zerstören uns ganz und gar. Nach der Verordnung, die im Ghetto angeschlagen war, hätten wir dorthin umziehen müssen. Jetzt erwartete uns für Nichtbefolgung die angedrohte» härteste Strafe«.

Wo finde ich einen Menschen, der nicht Angst hat, mit mir zu sprechen, der uns berät und hilft? Ich kannte so viele angesehene Litauer, viele der wieder angekommenen Deutschen, und doch gab es keinen, an den man sich wenden konnte. Algirdas fiel mir ein. Anderthalb Stunden Wegs zu seiner Wohnung. Er war nicht zu Hause. Seine Frau versprach, daß er am nächsten Tag in die Stadt kommen würde. Wieder, wie schon einmal, mit Angst und Sorgen beladen den weiten, ermüdenden Weg zurück. Eine zweite schlaflose Nacht.

Ich hatte mich mit Algirdas bei Natalia Iwanowna verabredet, einer Russin, deren Mann kürzlich gestorben war. Sie bedauerte, daß sie andere Leute bei sich wohnen habe, sie hätte uns sonst gern aufgenommen. Algirdas schlug eine andere Russin vor. Man telefonierte, und nach einer Stunde kam eine zierliche Dame, die sofort bereit war, mich mit zu ihrer Freundin zu nehmen, in deren Haus sie mit noch einer dritten Russin wohne. Sie sprach weder deutsch noch litauisch. Auf dem Weg versuchte ich mich auf englisch zu verständigen, denn man hatte mir gesagt, daß sie in der Mandschurei aufgewachsen sei und dort englisch gesprochen habe. Sie antwortete aber fast nichts, war sehr scheu und kühl. Sie sieht mit den dunklen Augen und dem gelblichen Teint wie eine allerliebste Chinesin aus, dachte ich. Sie war mir fremd, und die ganze Stadt, die so oft gegangenen Straßen, waren mir fremd.

Das altmodische Holzhäuschen, in das sie mich führte, lag nicht weit von unserer Wohnung, aber abseits der Straße, hinter großen Bäumen mit noch einigen ähnlichen Häuschen, die wie vergessen aus der zaristischen Zeit schienen. Innen war ein großer Raum, in dem mit halbhohen Bretterwänden einzelne Stuben angedeutet waren. Sie gingen nach Süden und Westen und waren trotz zerbrochener Fensterscheiben und notdürftiger Möblierung freundlich und hell.

Die chinesische Natascha besprach sich mit ihrer Freundin, der das Häuschen gehörte. Sie war sogleich bereit, uns aufzunehmen. Sie hieß ebenfalls Natascha, und trotzdem sie etwas besser als die andere litauisch sprach, konnten wir uns nur schlecht verständigen. Ich fühlte mich wie ein unliebsamer Fremdkörper in dieser intimen Welt, gerade weil die Hilfsbereitschaft so ohne Ansehn der Person gewährt wurde. Es wurde verabredet, daß wir uns schnell unsere nötigsten Sachen holen und unsere Wohnung vorläufig nicht mehr aufsuchen sollten. Als ich Gretchen abholte und ihr unser Quartier beschrieb, erinnerte sie sich, dieses Häuschen bereits zu kennen. Dort wohne unsere alte Bekannte Ludmilla.

Mit Ludmilla hatten wir vor Jahren Datsche an Datsche einen Sommer in einem einsamen russischen Walddorf verbracht, wo sie das ganze Jahr lebte, die Bauern kurierte und beriet, die Kinder lehrte und mit ihnen Theater spielte. Sie war seit Jahren schwer leidend und hatte, da die Ärzte sie bereits aufgaben, ihren eignen Weg gefunden, sich zu erhalten. Zu Kriegsbeginn war sie in die Stadt zu ihren Freundinnen gezogen und jetzt von neuem erkrankt und bettlägerig geworden. Sie bewohnte ein besonderes Zimmer, das ich vorher nicht bemerkt hatte.

Zwischen Gretchen und ihr wurde das frühere herzliche Verhältnis sogleich wieder hergestellt. Sie trafen sich in gemeinsamer Sorge um eine gute Freundin, die mit ihrer Familie nach dem Innern Rußlands umgesiedelt worden war.[37] Welches Glück, sagten sich beide, daß Beka nicht hier ist. Dort wird sie als freier Mensch leben und muß nicht die Leiden des Ghettos ertragen.

Für die Nacht bot man uns ein Sofa. Gretchen schlief sofort ein. Sie fühlte sich durch das überraschende Wiedersehen mit Ludmilla in der Abseitigkeit unseres Unterschlupfes geborgen und atmete warm und ruhig an meiner Seite. Ich grübelte lange, was wir nun weiter tun sollen. Am besten erst mal ein paar Tage vergehen lassen. Hier wird man uns nicht finden.

Es vergingen viele Tage des Wartens, ohne daß wir zu einem Entschluß kamen. Die beiden Nataschas waren gütig und hilfsbereit, aber sehr verschlossen. Erst allmählich bekam ich heraus, daß die eine Schneiderin war und in einem Trust arbeitete. Die andere besorgte den Haushalt und die kranke Ludmilla. Sie hielten ganz unregelmäßige Mahlzeiten, standen einmal ganz früh, ein andermal spät auf und gingen ebenso unregelmäßig schlafen. Der Zuschnitt ihres Lebens war in jeder Beziehung verschieden von unserem.

Wir hatten unseren elektrischen Kocher und Lebensmittel mitgebracht und kochten für uns. Wir wollten so wenig wie möglich stören. Gretchen ging nach wie vor in ihr Büro. Dort ahnte keiner etwas von ihrem Doppelleben. Sie ging mit ihren Arbeitskollegen nach Hause, verabschiedete sich an der Straße unserer Wohnung, wartete dort ein wenig in einem Treppenhaus, bis die andern außer Sicht waren, und eilte dann in unser Versteck.

Ich hatte mit unserer Hauswirtin ausgemacht, daß ich jedesmal erst anrufen würde, bevor ich in unsere Wohnung käme. Wir verabredeten einen Code, nach dem sie mir mitteilen sollte, ob man nach uns gesucht habe. Ich rief jeden Tag von einer Postfiliale auf dem Berge an. Da sich nichts ereignete, beruhigten wir uns allmählich, gingen öfter in unsere Wohnung, vor allem um unsere Donnerstagssendungen vorzubereiten. Während wir für unsere Marie einen kleinen Kuchen buken, schauten wir ständig aus dem Fenster. Wenn es klingelte, hielten wir uns mäuschenstill.

Algirdas mahnte uns dringend, die Stadt zu verlassen. Er bot sich an, bei einer Flucht behilflich zu sein. Er kannte Leute, die öfter nach Deutschland hereinfuhren und uns mit falschen Papieren mitnehmen könnten. Oder wir sollten nach Wilna gehen. In der größeren Stadt, in der wir nicht so bekannt waren, könnten wir uns leichter verbergen. Ich sagte zu jedem Vorschlag ja, traf alle Vorbereitungen und konnte mich doch nicht entschließen. Solange wir unsere Marie nicht bei uns haben, können wir nicht von hier fort.[38]

Vielleicht war es besser, in der Nähe der Stadt auf dem Lande eine Wohnung zu suchen. Wir erinnerten uns an den holländischen Gärtner Stoffel, der sieben Kilometer vor der Stadt seine Gärtnerei hatte. Wir kannten ihn nicht sehr gut, aber seine vornehme Erscheinung und seine ruhige, reservierte Art gaben uns solches Vertrauen, daß wir ihm gleich unsere Nöte unterbreite-ten und um Rat und Hilfe baten. Er selbst könne uns nicht aufnehmen, er wollte aber mit seinen Nachbarn sprechen.

Nach einigen Tagen kamen wir wieder heraus, gingen zusammen zu einigen Gehöften der Umgegend. Die Bauern waren bereit, uns gegen einen annehmbaren Mietpreis aufzunehmen. Holz und Lebensmittel waren hier leichter zu bekommen als in der Stadt. Ein neugebautes Haus gefiel uns besonders. Der Bauer versprach, unsere Möbel mit seinen Pferden abzuholen. Seine Frau erwarte bald ein Kind, da sei es auch ihm angenehmer, wenn noch jemand im Hause sei. So vernünftig alles aussah – auch dieser Plan blieb unausgeführt.

Einige Tage später kam Herr Stoffel, dem wir unser Versteck bei den Nataschas verraten hatten, zu uns. Der Rechtsanwalt Baumgärtel, den er gesprochen habe, sei außer sich, daß wir uns noch in der Stadt befänden. Es bestehe hohe Gefahr für uns. Wir sollten uns schnell zur Flucht entschließen.

Je mehr die Umstände zu einer Entscheidung drängten, desto unmöglicher erschien sie mir. Aber auch länger bei den holden Nataschas zu bleiben ging nicht an. Den Nachbarn fiel bereits unser langer Aufenthalt dort auf. Wenn Besuch kam, schlossen wir uns in einem Zimmer ein und regten uns nicht. Wir zeigten uns nie in den Verkehrsstraßen der Stadt, blieben meistens auf dem Grünen Berge. Aber auch hier oben war es unruhig. Täglich wurden auf der Straße und in den Häusern Verhaftungen vorgenommen. Man fing Menschen zu irgendwelchen Arbeiten, verhaftete Kommunisten, bestrafte Spekulanten.

Die Lebensmittelnormen, die auf Karten gewährt wurden, waren ungenügend. Der freie Verkauf war verboten. Aber die Litauer ließen sich nicht so leicht einschrecken.[39] Der Handel auf dem Schwarzmarkt blühte, die Preise stiegen. Wenn die Polizei auf dem Markte eine Razzia gemacht hatte, die Händler teils verhaftet, teils vertrieben hatte, so erschienen sie fünf Minuten hinterher wieder, und der Handel ging vergnügt weiter.

Es zeigte sich, daß die litauische Bevölkerung für dunkle Geschäfte, Umgehung der Gesetze, erbarmungslosen Wucher mit lebenswichtigen Waren ganz vorzüglich begabt war. Ganz mit Unrecht hatte sie behauptet, daß nur die Juden diese Fähigkeiten hätten, denn auch die geriebensten jüdischen Geschäftemacher halten sich im Prinzip an die Regel» Leben und leben lassen «und sind immer bemüht, einen Mittelweg zu finden, der beide Teile befriedigt. Aber auch jetzt noch, wo die Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet waren, wollte man ihnen ganz unlogischerweise an allen Mängeln die Schuld geben. Das Volk war nur zu gern bereit, auf die Propaganda der Deutschen hereinzufallen, die mit der antisemitischen Hetze die Aufmerksamkeit von ihrer eignen barbarischen Ausbeutung von Land und Leuten ablenkten.

Diese Ausbeutung, die gleich nach dem deutschen Einmarsch eingesetzt hatte, mußte von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Das reiche, wohlbestellte Bauernland war ein fetter Bissen, von dem man sich nichts abgehen lassen wollte. Die hohen Abgaben der Landprodukte wurden teils nach Deutschland geschickt, teils zur Heeresversorgung verwendet.»Für unsere Erhaltung müssen die von uns eroberten Länder sorgen«, rühmten[40] stolz die Soldaten. Sie befanden sich damals alle im Taumel der unentwegt Siegenden, die es nicht nötig hatten und keinen Wert darauf legten, beliebt zu sein. Unter den älteren Offizieren gab es allerdings damals schon manche, die dieses rücksichtslose Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung bedenklich fanden. Sie sahen schon voraus, daß es schlecht enden muß, sich überall Feinde zu machen.

Auf dem Savanoriu-Prospekt kamen lange Züge von Gefangenen. Sie wurden vor Wagen gespannt, um Pferde zu sparen. Sie trugen Holzbalken, mußten zu Fuß von einer Stadt zur anderen ohne Schuhwerk gehen. Die Stiefel hatte man ihnen abgenommen. Sie waren matt und abgezehrt. Obgleich es streng verboten war, den Gefangenen irgend etwas zu geben, wurde es allgemein üblich, ihnen Lebensmittel und Zigaretten zuzustecken. Besonders die russischen Bürger waren bemüht, soviel sie konnten zu helfen. Wir trugen in unserer Handtasche immer Äpfel, getrocknetes Brot, Zigaretten mit uns, um keine Gelegenheit ungenützt zu lassen. Die deutschen Wachen waren oft so perplex über die Dreistigkeit, mit der hier ein strenges Verbot überschritten wurde, daß sie nicht die Geistesgegenwart hatten, es zu verhindern. Andere taten bewußt, als ob sie es nicht bemerkten. Aber es gab auch oft Raufereien und Verhaftungen.

Ich sah einmal einen langsam schreitenden Zug Gefangener. Einer von ihnen fiel vor Erschöpfung zur Erde. Der Wachtposten, ein derber, roher Bursche, schrie ihn an, er solle aufstehen. Der Gefallene rührte sich nicht. Anscheinend war er ohnmächtig. Da überfiel den Deutschen eine solche Wut, daß er auf den Ärmsten heraufsprang, mit seinen schweren Stiefeln auf ihm herumtrampelte und dabei brüllte:»Auf, du Schwein! Wer gewinnt hier den Krieg? Nicht ihr, sondern wir! Wer gewinnt hier den Krieg, wer gewinnt den Krieg?«

Der Anblick solcher Roheit war entsetzlich. Es bildete sich sofort eine Menschenmenge. Eine Frau versuchte, den Soldaten fortzustoßen. Polizei mischte sich darunter. Man fragte [die Frau] nach ihrem Ausweis. Sie steckte ihnen mit einer kühnen Bewegung ihren Paß unter die Nase. Die und die bin ich, verhaftet mich, wenn ihr wollt, aber nie werde ich solche Niedertracht dulden. Sie ging mit den Polizisten. Ich sah, wie man sie dann freiließ. Wahrscheinlich waren auch die litauischen Polizeibeamten mit der Frau einer Meinung über diese Schandtat. Die russischen Gefangenen nahmen schweigend ihren mißhandelten Kameraden auf und trugen ihn mit sich.

Damals wurde es üblich, sich russische Gefangene aus den Lagern als Hilfskräfte für die Landwirtschaft zu holen. Meistens wurden sie dort gut herausgefüttert und fühlten sich sehr wohl. Aber es kam auch oft vor, daß einer davonlief. Deshalb wurde es später viel schwerer, die Bewilligung zur Haltung von Gefangenen zu bekommen.

Zu jener Zeit bekamen manchmal auch Städter die Erlaubnis zur Haltung eines Gefangenen. Unsere Nataschas wollten gleichfalls einen als Hauswächter und Pfleger des Gartens bekommen. Sie hatten sich bereits mit einem bekannt gemacht, der noch im Lazarett lag. Da man in der Administration deutsch sprechen mußte, ging ich als Vermittlerin mit.

Während wir im Vorhof warteten, kamen verwundete und kranke Gefangene heran. Wir verteilten unser Mitgebrachtes. Die Russen bedankten sich sehr. Sie steckten sich sofort die Papirossen[41] an, bissen in das geröstete Brot. Da [es] ihnen aber unpassend erschien, das rösche Brot so laut krachen zu lassen, bemühten [sie] sich, vorsichtig zu kauen, um nicht zu laut zu knuspern. Natascha fing ein Gespräch mit ihnen an. Wir schauten [uns] dabei ununterbrochen ängstlich nach allen Seiten um, im Bewußtsein, hier ein strenges Verbot zu übertreten. Aber hier im Lazarett schien ein angenehmes Milieu zu sein. Ärzte und Pfleger duldeten stillschweigend das Unerlaubte, und die Kranken versicherten, daß sie gut behandelt würden.

In der Kanzleistube sprachen wir mit einer sehr liebenswürdigen Dame, die – jung, blondlockig, schön und elegant – der Atmosphäre einen unerwarteten Glanz gab. Personal und Patienten strahlten, wenn diese Sonne ihr Licht auf sie scheinen ließ, und auch wir wurden davon betroffen. Die Strahlende versprach, für die Zuteilung des erbetenen Gefangenen Sorge zu tragen. Wir könnten ihn, wenn wir wollten, jetzt gleich sehen und alles mit ihm besprechen.

Man schickte einen Boten, und bald kam der Verlangte langsam über den Lazaretthof angezockelt. Natascha setzte sich mit ihm auf ein Bänkchen am Toreingang. Ihr strenges Profil kam mir, von der Sonne beschienen, nicht mehr chinesisch vor, sondern ganz slawisch, eine echte, kleine Russin im Gespräch mit dem großen, etwas schwerfälligen Mann, der einen Arm gegipst und mit Gaze verbunden hoch auf ein unbequemes Gestell gebunden trug.

Wir gingen vergnügt und mit unserm Erfolg zufrieden nach Hause.»Wie kann der Mann, der anscheinend lange schwer verletzt ist, schon in wenigen Tagen zur Arbeit entlassen werden?«fragte ich Natascha.»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Iwan ist überhaupt nicht verletzt, sondern wegen kranker Augen in ärztlicher Behandlung. Den pompösen Verband mit dem Gestell trägt er, wie noch viele andere Lazarettinsassen, nur als Attrappe für die deutsche Kontrolle. Das machen ihnen die litauischen Ärzte und Pfleger aus Mitleid, damit die armen Schlucker noch ein Weilchen im Lazarett bleiben können.«

Ich hörte hier zum ersten Mal von so wohlorganisierter Sabotage. Später lernte ich sie noch an vielen Stellen kennen und bewundern.

Iwan kam nicht am verabredeten Tag, und Natascha und ich gingen wieder ins Lazarett. Das Bild hatte sich völlig verändert. Schon der Torposten wollte uns den Eintritt verwehren. In der Kanzlei neue Menschen. Die Strahlende, die ihr Amt so virtuos verwaltet hatte, war verschwunden. Später hörte ich von einem Arzt, daß die Deutschen entdeckt hätten, daß sie eine Polin sei, und sie deshalb sofort entlassen und nach Deutschland zurückgeschickt hätten. An ihrer Stelle saß ein derber Gefreiter und sagte uns klipp und klar, daß an private Stadtbewohner keine Gefangenen mehr gegeben werden dürften. Während Natascha den vergeblichen Versuch machte, Iwan noch einmal zu sprechen, und ich im Hof wartend stand, wurden aus dem gegenüberliegenden Gebäude zwei Tote herausgetragen. Die wächsernen Füße ragten aus dem Leintuch. Sie wurden auf einen Karren geladen und fortgeführt.

«Wie bei meinen Besuchen beim Rechtsanwalt Baumgärtel«, dachte ich auf dem Heimweg,»das erste Mal so hoffnungsvoll, und nach wenigen Tagen hat sich alles gewandelt.«

Das Ghetto war am 15. August geschlossen worden. Am Tor standen Wachtposten, die den Eintritt verwehrten. Die Juden durften es nur in Begleitung von Wachen verlassen. Täglich kamen größere und kleinere geschlossene Gruppen – »Brigaden«– über die Vilijabrücke in die Stadt, um bei den deutschen Militär- und Zivilbehörden zur arbeiten. Die Stellen forderten am Vortage von der Ghettoverwaltung die benötigte Zahl von Arbeitskräften.

Die Militärstellen waren beliebter, trotzdem die Arbeit dort häufig physisch schwerer war. Aber unter Offizieren und Soldaten gab es viele, deren Gefühl sich gegen die offenbare Verletzung der Menschenwürde empörte und [die] sie persönlich auszugleichen versuchten. Die jiddische Sprache ist der deutschen so verwandt, daß eine Verständigung ohne weiteres möglich ist. Die deutschen Soldaten, die hier häufig zum erstenmal in ihrem Leben mit Juden in engere Berührung kamen, erlebten zu ihrem größten Erstaunen, daß das von der deutschen Propaganda geschaffene Zerrbild in keiner Weise auf die Wirklichkeit paßte. Sie fanden anstellige, tüchtige Handwerker, die ihr Fach ausgezeichnet verstanden, sie fanden Lastträger von ungewöhnlichen körperlichen Kräften, intelligente Ingenieure. So entwickelten sich oft sehr freundliche Beziehungen zwischen den Soldaten und den Juden. Sie schütteten sich gegenseitig ihr Herz aus, und manchmal entwickelten sich richtige Freundschaften.

Unter den jüdischen Mädchen und Frauen fanden sie die lieblichsten, anziehendsten Erscheinungen, und auch da entstanden rasch menschliche Beziehungen, oft solche mit der Hoffnung auf Dauer» nach dem Kriege«, die sich freilich nicht verwirklichen konnte. Offiziere nahmen jüdische Mädchen zur Instandhaltung ihrer Wohnung. Aus den Aufwartungen wurden Hausfrauen, und die intimen Beziehungen sprachen der propagierten natürlichen rassischen Abneigung Hohn. Wurden diese Verhältnisse von den Vorgesetzten entdeckt, so schickte man die Offiziere schleunigst an die Front.

Natürlich gab es auch viele, die den Juden von vornherein mit dem ihnen eingeprägten Vorurteil begegneten und sich durch keine Einsicht davon abbringen ließen. Aber solche waren unter den Soldaten viel seltener als bei der Zivilverwaltung. Vielleicht hatte auch das Beispiel, die würdige Erscheinung der obersten militärischen Person, des Generalmajors Just[42], seine Wirkung, während die Häupter der Zivilverwaltung wahre Untiere waren, die in ihrer Überheblichkeit im Laufe der drei Okkupationsjahre nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Litauer die schwersten Verbrechen begingen.

Eine Brigade von Frauen wurde beordert, in den Verwaltungsgebäuden die verwahrlosten Klosetts zu reinigen. Auf die Forderung von Bürsten und Lappen antwortete man ihnen:»Nehmt eure Kleider!«Auch zum Dielenscheuern, zum Fensterputzen wurde ihnen das nötige Putzzeug verweigert. Man sah gebildete Juden als Straßenkehrer, beim Räumen vom Schutt, Ausbessern der Straßen.

Sie sollten eigentlich nur Schwerarbeit leisten. Da aber überall Arbeitskräfte fehlten und es sich zeigte, daß die Juden auf allen Gebieten tüchtige Kräfte stellen konnten, wurden einzelne auch als Übersetzer in den Schreibstuben, als Drucker, Ingenieure, Buchhalter, anfangs sogar auch als Ärzte verwendet.

Man holte jüdische Fachärzte, wenn in schweren Fällen die anderen keinen Rat mehr wußten. Man sah gelegentlich, wie einer der bekannten Chirurgen oder Internisten von einem Partisanen mit dem Gewehr in der Hand durch die Stadt geführt wurde. Der Partisan auf dem Fußsteig, der Arzt daneben im Rinnstein mit dem gelben Stern.[43] Die Frau eines hohen Zivilbeamten, eines schweren Antisemiten, ließ sich von einem jüdischen Gynäkologen von einer Zwillingsgeburt entbinden.

Die Beschäftigung der Ärzte wurde bald verboten. Die Deutschen verzichteten lieber auf die rettende medizinische Hilfe, als ihre Notwendigkeit einzugestehen. Eine Ausnahme bildete der Zahnarzt Dr. Quitzner, der bis zuletzt mit seiner Frau als Assistentin in der Gestapo als Zahnarzt arbeitete. Er hatte sein vollständig eingerichtetes Kabinett, und die Mörder von Tausenden von Juden ließen sich von seiner geschickten Hand die Plomben, Kronen und Gebisse machen. Er wurde täglich mit einem Auto vom Ghetto abgeholt und wieder zurückgebracht.

Am 18. August wurden circa 500 intelligente, gutgekleidete Juden zur Sonderverwendung in einem Archiv gefordert. Sie sollten etwas Gepäck mitnehmen, da man sie längere Zeit außerhalb der Stadt beschäftigen werde. Es meldeten sich viele freiwillig. Sie waren erfreut, zu so angenehmer Arbeit gebraucht zu werden, und verabschiedeten sich wohlgemut von ihren Angehörigen. Die zur geforderten Zahl Fehlenden wählte der Ältestenrat aus. Am Morgen verließen 534 gut angezogene, meist jüngere Männer mit ihren Koffern oder Bündeln in der Hand das Ghetto. Sie wurden weggeführt, und niemand hat wieder etwas von ihnen gehört. Später gestanden angetrunkene Gestapisten, daß man sie auf einem Fort erschossen hat. Sie brauchten Anzüge und Wäsche, war die zynische Begründung. Das war die erste große Vernichtungsaktion.[44] Im Ghetto glaubte man noch lange, daß sie zurückkommen würden, bis man allmählich begriff, daß keine Hoffnung mehr war.

Der Terror hielt an. Ende August erging der Befehl, alles Geld bis auf 10 Reichsmark, die pro Kopf erlaubt wurden, abzugeben, außerdem alle Wertgegenstände, Gold, Silber und Juwelen, alle elektrischen Geräte, alle Pelze. Viele machten den Versuch, einen Teil ihrer Schätze zu verstecken. Die meisten wurden dadurch eingeschreckt, daß man circa 20 Personen sofort erschoß, weil sie Sachen versteckt hatten. Deutsche Polizei und litauische Partisanen durchsuchten Haus für Haus, Höfe und Schuppen. In jedes Haus kamen sie mehrere Male, durchwühlten alles und plünderten dabei nach Herzenslust. Manchen war es dennoch gelungen, etwas in Eile zu vergraben oder anderswie vor den Räubern zu verbergen, aber viele gaben vorbehaltlos alles, was gefordert wurde, und verblieben völlig mittellos.

Die Verteilung von Lebensmitteln erfolgte in staatlichen Läden, wie für die Stadtbevölkerung, nur daß die Rationen viel geringer waren. Um täglich 200 Gramm Brot zu bekommen, mußte man lange anstehen. Butter, Fett und Fleisch gab es überhaupt nicht. Wer in der Stadt arbeitete, brachte Gemüse, Kartoffeln mit. Auf dem Wege von und zu den Arbeitsstätten kaufte man auf den Märkten. Auch auf den Arbeitsstätten, den Höfen der Fabriken, Baustellen, Behörden entwickelte sich schnell ein schwunghafter Tauschhandel. Da man in der Stadt alle wertvolleren Waren beschlagnahmt hatte, war große Nachfrage, besonders nach Kleidungsstücken. Manche Juden hatten noch viel. Die nichts hatten verdienten am Zwischenhandel. Diese Geschäfte und jegliche andere Beziehung zu den Juden waren natürlich verboten. Es gab aber viele Posten, besonders unter den deutschen Soldaten, die durch die Finger sahen. Trotzdem war dieser Handel eine ernste Gefahr für beide Teile. Viele Litauer wurden dabei verhaftet, manche saßen wochenlang im Gefängnis. Ein Bürger, der sich erdreistet hatte, einem Juden auf der Straße die Hand zu geben, wurde dafür mit einer Woche Gefängnis bestraft, sein Name als abschrekkendes Beispiel in der Zeitung genannt.

Jordan ertappte auf dem Markte der Altstadt einen Juden, der vier Bauernwagen voll Gemüse eingekauft hatte, um sie ans Ghetto fahren zu lassen, wo man die Ware durch den Drahtzaun hineinschmuggeln wollte. Jordan zog seinen Revolver und erschoß den Käufer vor den Augen aller Umstehenden. Das Gemüse wurde an die umstehenden Weiber verteilt, die sich, anstatt sich über die Missetat zu empören, zufrieden mit den ihnen unerwartet zuteil gewordenen Kohlköpfen und Möhren davonmachten. Noch Wochen später hörte ich eine sich rühmen, wieviel sie damals von der Beute abbekommen habe.

Auch am Drahtzaun wurden Geschäfte gemacht. Die Bauern kamen mit ihren Fuhren über die Landstraße, die am Ghetto vorbeiführte. Die Posten wurden bestochen, häufig beteiligten sie sich mit an den Geschäften. Große Möbelstücke, Sofas, Nähmaschinen wurden so direkt gegen Fett, Butter, Fleisch eingetauscht. Auf den anliegenden Friedhof kam ein Weiblein mit einem Kinderwagen. Sie verneigte sich murmelnd, als ob sie den Rosenkranz spräche, aber statt frommer Gebete ertönte die Anpreisung ihrer Waren:»Habe Butter, habe Speck, Gänse, Hühner. «Die Juden brachten Stoffe, Wäsche, und hurtig wurden die Produkte aus dem Kinderwagen durch den Stacheldraht lanciert.

Die litauischen Spekulanten nützten die Notlage der Juden weidlich aus und schlugen zu den Schwarzmarktpreisen immer noch auf. Sie mischten sich oft mit großer Dreistigkeit und ohne den geringsten Respekt vor den deutschen Gesetzen in die Brigaden, wo sie ihre Produkte mit Sicherheit zu guten Preisen umsetzen konnten. Wurde einer gelegentlich gefaßt und abgeurteilt, so fand er das auch» halb so schlimm«, saß seine paar Wochen ab und spekulierte hinterher munter weiter. Für die Juden dagegen bedeutete jede Gesetzesübertretung Todesgefahr. Der Kauf einer Zeitung an einem Kiosk, ein Händedruck auf der Straße mit einem vorübergehenden Bekannten, das Überhören des Anrufs eines Postens kostete viele das Leben. Dennoch war auch bei ihnen der Optimismus, der Glaube an das Leben so groß, daß sie auch in ihrer verzweiflungsvollen Lage um die kleinen Freuden des Genusses kämpften und unermüdlich und erfindungsreich die Wege dazu fanden. In den ersten Monaten dachten sie allerdings noch nicht daran, diese Wege einzufahren. Es war mühsam und bitter genug, sich in die neue Lage zu finden und sich Tag für Tag notdürftig zu erhalten.

Wir hielten uns schon die zweite Woche bei den Nataschas versteckt, ohne daß sich unsere Lage klärte. Wir gingen fast täglich in unsere Wohnung – nie ohne uns vorher telefonisch bei unseren Hauswirten zu versichern, daß alles in Ordnung sei. Die ganze Woche bereiteten wir unsere Donnerstagssendung vor, buken Weißbrot, kochten Marmelade, gingen aufs Land, um Eier und Milch zu erstehen. Und jedesmal das bange Warten und schließlich Erleichterung, wenn endlich alles abgegeben war und wir ihre Unterschrift in der Hand hielten.

Wir schickten jedesmal auch Leibwäsche, ein Handtuch und andere Kleinigkeiten mit: Bleistifte, ein Spiel, eine Handarbeit. Aber die Kontrolle wies vieles als»überflüssig «zurück. So angstvoll wir sonst auf der Straße gingen, in der Furcht vor plötzlicher Verhaftung – auf dem Gefängnishof fühlte ich mich unter den vielen Leidensgenossen sicher. Gerade hier, schien mir, würde mir nichts geschehen. Eine junge Frau sorgte für ihre Schwester, die mit Marie zusammen in einer Zelle saß. Wir wußten, daß die beiden Leidensgefährtinnen schwesterlich teilten, was wir ihnen brachten.

Als wir einmal in unserer Wohnung waren, wurde heftig geklingelt. Wir öffneten nicht, hielten uns mäuschenstill. Nach einer Viertelstunde kam unser Wirt.[45] Soeben sei ein Polizeibeamter bei ihnen gewesen, um sich nach uns zu erkundigen. Er habe sich unsere Personalien aus dem Hausbuch und nach den Aussagen des Wirtes eingehend notiert und dem Wirt strenges Schweigen uns gegenüber über seine Erkundigungen auferlegt. Mein Hauswirt hatte nichts Eiligeres zu tun, als das Verbot zu brechen. Er riet uns, unsere Wohnung einige Tage zu meiden. Wir schlichen in unser Versteck zurück.

Der Savanoriu-Prospekt lag so weit, so breit vor uns. Die Menschen gingen ruhig, gleichgültig. Wir schauten uns ängstlich um. Niemand ging uns nach. Trupps von Soldaten zogen in der Mitte der Straße. Sie sangen laut mit blechernen Stimmen von der kleinen Ursula und neue ausdruckslose Marschlieder. Es war keine Freude, kein Gefühl in ihrem Gesang.

Die lieblichen Nataschas beruhigten uns. Wir könnten bei ihnen bleiben, solange wir wollten. Sie wollten uns nicht merken lassen, welche Opfer sie mit unserer Beherbergung brachten. Sie hatten Besuch bekommen, und es fehlte an Raum und Lagern. Wir gaben unser Sofa ab und schliefen auf einem Schafpelz auf der Erde. Gretchen, die müde war von der ungewohnten Arbeit im Büro, schlief fest die ganze Nacht. Ich lag neben ihr wach und grübelte nach einem Ausweg für uns. Wenn wir nur erst unsere Marie bei uns hätten, würden wir zu dritt irgendwohin fliehen.

In unsere Wohnung war kein verdächtiger Besuch mehr gekommen. Wir gingen wieder hin und blieben dort. Nur manchmal, wenn uns abends Angst überfiel, daß man uns diese Nacht suchen werde, flüchteten wir zu unseren Wohltäterinnen, die uns immer freundlich aufnahmen. Ludmilla lag immer noch krank im Bett. Die klinischen Untersuchungen waren nicht gut ausgefallen. Zur nötigen Kur fehlten die Mittel. Sie selbst und die beiden Freundinnen trugen diese schwerste Sorge wie ihre vielen kleinen mit der heiteren Geduld frommer Menschen. Wir hatten uns allmählich über die Schwierigkeit der fremden Sprache hinweg angefreundet, und ihre immer gleich bleibende Hilfsbereitschaft und Sanftheit beruhigte uns tief. Als wir gingen, hatten wir das beruhigende Gefühl, jederzeit wiederkommen zu können, wenn es nötig werden sollte.

Es wurde Herbst. Wird unsere Arme, unsere Liebste nicht frieren in den kalten Gefängnismauern? Ich schickte ihr eine wattierte Jacke, warme Strümpfe und Schuhe. In den Strumpfspitzen schickten wir ihr kleine Briefchen. Nach einer Woche bekamen wir die getragenen Strümpfe mit gefüllten Spitzen zurück. Trostworte, Zärtlichkeiten, vorsichtige Andeutungen, nichts Verfängliches für den Fall, daß die geheime Post einmal entdeckt werden sollte. Wir schickten graues Leinen und viel buntes Stickgarn, damit sie sich mit einer Handarbeit zerstreut.

An den Donnerstagen stand man nicht mehr in dem weiten Hof, sondern in einer geordneten Reihe vor dem Gefängnistor. Es wurde schon kalt und die Abende lang. Einmal kam eine Frau. Sie sei soeben aus dem Gefängnis entlassen worden und habe Marie versprochen, daß ihr erster Weg zu uns sei, um ihre Grüße zu bringen. Die Zellen seien geheizt, das Essen mit den wöchentlichen Zugaben von draußen erträglich, aber die Sehnsucht nach Freiheit unerträglich. Auf einem Handtuch hatte Marie mit dünnem schwarzen Zwirn gestickt:»Könnt ihr mir denn nicht helfen, ich vergehe vor Sehnsucht und Qual. «Auch wir weinten heiß vor Sehnsucht und Qual.

Ich ging ins Generalkommissariat, um noch einmal mit dem Rechtsanwalt Baumgärtel zu sprechen. Er arbeite nicht mehr hier und werde bald nach Deutschland versetzt werden. Ich bat ihn durch einen gemeinsamen Bekannten, ihn in seiner Privatwohnung aufsuchen zu dürfen. Er lehnte ab, mich zu empfangen. Ich hatte kurz vorher den früheren Direktor des Kaunaer Deutschen Gymnasiums um eine Unterredung bitten lassen und ebenfalls eine abschlägige Antwort erhalten. Ein feiges Volk, die Deutschen.

Ich ging in die Privatwohnung des mir bekannten litauischen Kriminalbeamten. Ich wollte ihn ohne vorherige Anmeldung aufsuchen und um seine Vermittlung bei der Gestapo bitten. Sein Haus war verschlossen.»Da können Sie lange klingeln und klopfen«, sagten die Nachbarn,»er ist nämlich seit einigen Wochen verhaftet.«

Da ließ ich alle Vorsicht und ging selbst in das Schrekkenshaus der deutschen Polizei, in das ich schon in den ersten Kriegswochen so oft und so vergeblich gegangen war. Im Gang saß der frühere Schüler. Er nahm diesmal nicht die Hand, die ich ihm reichen wollte, sondern sagte nur halblaut und sehr schnell:»Wir wissen Bescheid. Sie können nichts bessern, gehen Sie schnell wieder fort!«Ich ging.

Ich hatte jetzt mehr Privatschüler und gab meine Stunden korrekt und gewissenhaft. Keiner merkte mir die Sorgen an. Manche Tage vergingen mit der Besorgung von Holz und Kartoffeln. Weit draußen in einem Vorort sollten Kartoffeln in einem Waggon angekommen sein. Als ich hinkam war es schon dämmerig geworden. Die Waggons standen offen. Leute luden gefüllte Säcke auf Kinderwagen und Fuhrwerke. Ich vereinbarte mit einem Fuhrmann, meinen Sack mit zur Stadt zu nehmen. Doch als ich mich daran machen wollte, ihn zu füllen, verwehrte es der Bahnbeamte. Es sei zu spät. Er zog den Waggon zu. Man gab nichts mehr ab.

Ein Trupp grauer Gefangener zog langsamen Schrittes hinter den Bahnschienen vorbei. Sie trugen einen toten Genossen zu Grabe. Es fing an zu regnen. Die Tränen strömten mir aus den Augen. Ich weinte über den toten fremden Russen, die Bosheit der Menschen, aus wilder Sehnsucht und Verzweiflung.

Ende Oktober. Wir saßen abends in unserer Stube und taten nichts, waren traurig und unruhig. [Da] kamen zwei junge Mädchen zu uns, mit einem Gruß von Marie! Sie seien einige Tage wegen Übertretung des Tanzverbotes verhaftet und mit Marie in einer Zelle gewesen. Sie hätten sich schnell miteinander angefreundet, hätten zusammen gespielt und gespaßt und seien sehr lustig gewesen. Marie hoffe, auch bald entlassen zu werden. Dann wollten sie ihre neue Freundschaft weiter pflegen. Sie sei gesund und fröhlich gewesen. Der Besuch dieser strahlenden, hübschen Mädchen belebte und tröstete uns.

Als sie fortgegangen waren, holte Gretchen das Büchschen mit dem chinesischen» Zitterspiel«. Sie warf die elfenbeinernen dünnen Stäbchen zu einem Häufchen auf den Tisch, und wir versuchten mit einem zierlichen Häkchen eins nach dem andern herauszuziehen, ohne die übrigen dabei zu berühren. Wir spielten und sprachen von unserer Liebsten, unserer Marie, die sich nach uns sehnte, wie wir uns nach ihr.

Am folgenden Donnerstag stand ich ruhiger als sonst in der Schlange der Wartenden vor dem Gefängnis. Die Mädchen hatten viele Einzelheiten erzählt, von den verschiedenen Wärterinnen, den guten, die die Vertrauten der Gefangenen waren, und den bösen, vor denen man seine heimlichen Beschäftigungen versteckte. Ich hatte auf dem Weg zum Gefängnis noch Äpfel gekauft und in die Strumpfspitzen wieder ein tröstendes, zärtliches Briefchen geknäult. Endlich kam ich an die Reihe zur Registration.

«Maryte Holcmanaite – H, H, so eine ist bei uns nicht.«—»Vielleicht falsch registriert. Sehen Sie mal bei Ch nach oder bei G.«[46] —»Nein, ist nicht da. «Er sah sich mit einem andern Beamten bedeutungsvoll an.»Gehen Sie zur Inspektion, fragen Sie dort. «Der Inspektor war mürrisch:»Gehen Sie zur deutschen Polizei.«

Wieder in das verhaßte, weitläufige Gebäude. Ich ließ mich bei Stütz melden, wurde sofort eingelassen. Ein junger brünetter Mann in schwarzer Uniform. Das Hakenkreuz der Armbinde mit einem schwarzen Seidenband sauber aufgenäht. Er saß am Schreibtisch. Ich stand.»Ihre Tochter, ja, die ist fort.«—»Fort? Wo ist sie? Verschleppt? Ist sie tot?«—»Ich werde mal telefonieren.«

Er ließ sich verbinden und sprach mit einer anderen Stelle, sprach von ganz anderen Dingen, mit vielen unverständlichen Ausdrücken. Ich rüttelte den Mann am Arm, flehte.»Sagen Sie doch schneller, wo sie ist. Martern Sie mich nicht länger. «Er ließ sich nicht stören, sprach noch lange weiter, dann hängte er ab, sah mich an.

«Ihre Tochter ist tot. – Das war doch eine gefährliche Kommunistin, und ihr Vater ein Jude. Jetzt wird mit allen Juden hier aufgeräumt. Wir selbst beschmutzen uns nicht damit, dazu haben wir die Litauer. Im Reich haben wir das bis jetzt versäumt. Auch dort wird keiner übrigbleiben. Die Halbjuden werden nicht gleich behandelt, aber die gefährlichen, die müssen weg.«

Es kamen noch einige in das Zimmer. Ein dicker Bote in brauner Uniform schüttelte den Kopf und sagte:»Ja, ja, arme deutsche Frau. «Ich sah die Männer vor mir, sah sie an:»Mörder! Ihr seid die Mörder. «Stütz nahm den Revolver, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte und steckte ihn in das Futteral an seinem Gürtel.»Ich rate Ihnen, das nicht noch einmal zu sagen. Wie ist Ihre Adresse? Ich werde in den nächsten Tagen mal zu Ihnen kommen, vormittags gegen halb zehn Uhr.«

Ich ging nach Hause, das volle Körbchen mit den Donnerstagsgaben am Arm, trockenen Auges, stellte mein Körbchen in die Küche und stand. Nach einer Stunde kam Gretchen aus dem Dienst. Wir weinten nicht, sprachen nicht.

Der Tag ging zu Ende, und ein neuer [kam]. Gretchen ging wie immer in ihren Dienst, ich ging zu meinen Schülern. Wir sprachen mit niemandem von dem Entsetzlichen, nur Ludmilla und [die] Nataschas wußten es. Wir standen auf, aßen unser Stück Brot, stellten mittags Kartoffeln auf den elektrischen Kocher, legten uns abends in unsere Betten im gemeinsamen Zimmer. Soll er nur kommen, der Stütz. Wir werden uns nicht mehr verstecken. Mag er uns holen. Sie ist fort – fort. Wir wollen auch fort sein. – Er kam nicht.

Die Tage wurden kürzer und dunkler. Im November ging ich ins Stadtkommissariat. Cramer hatte den Frauen jüdischer Männer gedroht, wenn sie sich nicht sofort scheiden ließen, werde er sie ins Ghetto stecken. Es war dabei gleichgültig, ob die Männer geflohen waren oder im Ghetto lebten oder tot waren. Ich hatte mich bis jetzt nicht zu dieser schändlichen Komödie entschließen können, ging nun aber doch. Eine Beamtin notierte die Daten. Am nächsten Tage bekam ich ein Zettelchen mit Schreibmaschinenvordruck, bekam einen Stempel mit Vermerk in meinen Paß und zahlte fünf Mark. Damit war die» Scheidung «vollzogen.

In das Übersetzungsbüro war eine frühere Mitschülerin Gretchens [namens] Robaschenski gekommen, um ein Gesuch an Jordan schreiben zu lassen, in dem der Vater Robaschenski mit seinen beiden Töchtern bat, in der Stadt wohnen bleiben zu dürfen. Frau Robaschenski, Protestantin, aber jüdischer Abstammung, war nicht ins Ghetto umgezogen. Auf eine Anzeige war ihr Fall bekannt geworden. Eines Tages erschien die Polizei und verlangte, daß nicht nur die Frau, sondern auch der» arische «Mann, weil er sich nicht habe scheiden lassen, und die Mischlingstöchter binnen drei Tagen ins Ghetto zu ziehen hätten. Das Gesuch wurde von Jordan abschlägig beschieden.

«Auf, ins Ghetto«, rief die ältere Tochter mit bitterem Hohn. Sie packten in Eile ihre Sachen, rüsteten [für] den Umzug, aber in der letzten Nacht trafen sie eine andere Entscheidung. Am Morgen fand man die vier Menschen tot in ihrer Wohnung. Sie hatten sich mit zwei Revolvern erschossen. Der Vater die jüngere Tochter und dann sich selbst. Die ältere, ein selten ernstes, charaktervolles Mädchen vor dem Selbstmord die Mutter. Die Tragödie dieser Familie – Mischehe mit halbwüchsigen, deutsch erzogenen Töchtern – , die in ihrer großen Verbundenheit manche Ähnlichkeit mit uns hatte, machte nicht nur uns tiefen Eindruck. Auch in der Stadt wurde sie erregt besprochen und die Härte und Willkür Jordans gemißbilligt.

Ich lag die langen Nächte hellwach. Jeden Augenblick konnten sie kommen und uns holen. Wir kannten nun schon ihre rohen Gestalten, brutal und weichlich zugleich, ihre harten, lauten Stimmen. Sie würden kommen, uns holen, quälen und Schluß machen, ein Ende unserem Leid. Fort. – Neben mir hörte ich Gretchen tief und sanft atmen. Jeder Atemzug ist Leben. Hier schläft meine Kleine lebendig, unversehrt.

Natascha Feodosewna ließ mir einmal durch Ludmilla sagen, ich solle nicht vergessen, wie reich ich doch noch mit meinem Gretchen sei. Sie hatte, ohne daß wir davon gesprochen, meine nächtlichen Qualen mitgefühlt und mitgelitten.

Am Tage war alles einfacher. Wir beschlossen, daß Gretchen allein nach Deutschland flieht. Es war nicht schwer, einen Soldaten zu finden, der bereit war, sie in seinem Lastwagen über die schwach kontrollierte Grenze zu nehmen. Wir trafen Vorbereitungen, aber es war uns nicht ernst. Schließlich sprachen wir nicht mehr darüber.

Die deutsche Armee ging mit Siegesschritten tief nach Rußland hinein. Noch einige Tage, und sie werden Leningrad eingenommen haben oder vielleicht vorher Moskau. Sie sind die ewig siegenden Eroberer. Die Welt sah es mit Staunen und Bewunderung. Die deutschen Soldaten brüsteten sich. Die Länder, in die sie schreiten, legen sich ihnen zu Füßen. Sie beschlagnahmen die Ernten, plündern die Warenlager der Städte, schlagen die Wälder, versklaven die Bevölkerung. Sie überraschen die Völker mit einem fertigen, bis ins kleinste ausgeklügelten Verwaltungssystem, das sofort in Kraft gesetzt wird. Sie sind unwiderstehlich, und dennoch, dennoch – von Anfang an war zu fühlen, daß dieser blendende Aufbau einen Konstruktionsfehler hatte. Es fehlte etwas in seinen Maßen. Dem Fundament war nicht zu trauen. Der hörige Glaube an die Unfehlbarkeit des Regimes, die maßlose Überheblichkeit gegenüber allen anderen Völkern und nicht zuletzt ihr wahnwitziger Antisemitismus – aus dem allen konnte und konnte am Ende nichts Gutes hervorgehen.

So warteten wir nur auf die Zeit, in der das offenbar werden würde. Die Oberschwester eines Lazaretts, die mir meine Pelzjacke abkaufen wollte, zog sich schließlich vom Kauf mit der Begründung zurück, daß Deutschland noch im Herbst den Krieg gewinnen würde und sie den Pelz in ihrer süddeutschen Heimat nicht nötig haben werde. Damals konnte sich noch niemand vorstellen, daß schon der Winter die ersten großen deutschen Niederlagen bringen würde, von denen Deutschland sich nicht wieder erholen konnte. Und doch war uns schon gewiß, daß der Zusammenbruch kommen würde. Wir wußten uns in dieser Hoffnung einig mit den Freunden und Geschwistern in der Heimat. Wir bekamen von dort spärliche, verängstigte Nachrichten, Todesanzeigen im Felde gefallener Freunde. Ein Sohn meiner Schwester war vor Leningrad gefallen, der andere hatte sich die Füße erfroren. Er lag monatelang schwerkrank im Lazarett.

Der Winter hatte schon so früh mit eisiger Kälte eingesetzt, daß die Bauern Kartoffeln und Gemüse noch nicht geerntet und eingemietet hatten. Ein großer Teil erfror und verfaulte auf dem Felde. Wir standen stundenlang vor den offiziellen Geschäften, wo es Kohl und rote Rüben zu den festgesetzten, niedrigen Preisen gab. Wir standen abwechselnd, weil es für einen zu kalt auf dem zugigen Savanoriu-Prospekt war. Man stand und stand geduldig in der langen Reihe und hörte das Geschwätz der Weibchen an, die mit derselben Ergebenheit warteten, wie sie den Freitod der Familie Robaschenski als unfromm verurteilten und über die schrecklichen Geschehnisse sprachen, die sich im Ghetto ereignet hatten.

Anfang September begann die vollständige Ausrottung der Juden in der litauischen Provinz. Es wurde dabei nach einem bis ins kleinste ausgearbeiteten Plan vorgegangen, so daß in allen Landstädten dieser grauenvolle Vernichtungsprozeß auf die gleiche Weise abrollte.

Deutsche Polizei warb unter der litauischen Land- und Kleinstadtbevölkerung um Partisanen, Henkersknechte ihrer harmlosen Mitbürger, mit denen sie ihr Leben lang zusammengelebt hatten. In den Landstädtchen hatten Litauer und Juden trotz vieler kleiner Spannungen im besten Einvernehmen gelebt. Die Juden waren Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Gastwirte, Ärzte und bildeten einen wichtigen Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens. Die litauischen Beamten pflegten gute Beziehungen zu den tüchtigen jüdischen Landärzten, Advokaten, Ingenieuren, und die Litauer rühmten sich, daß es in ihrem Lande niemals Pogrome wie in Rußland und Polen gegeben habe.

Jahrelange systematische Wühlarbeit seitens des nationalsozialistischen Regimes hatte den Boden bereitet. Alles, was sich im Zeichen des sich vorbereitenden Krieges an Unebenheiten, Schwierigkeiten des Lebens, Teuerung und Arbeitsnot entwickelte, alles wurde den Juden als Ursache zugesprochen. Jetzt sei der Tag der Rache gekommen, peitschte die Propaganda die dunklen Gemüter auf, der Augenblick, da man sich am Besitz der Juden, der bei vielen ein Anlaß des Neides gewesen war, schadlos halten konnte. Es meldeten sich die Schlechtesten der Bevölkerung, die Faulen, die Tunichtgute, die Beutegierigen. Die Deutschen versprachen den Partisanen reichen Anteil an der bevorstehenden Beute und gaben ihnen zur Ermunterung Schnaps in großen Mengen. Der Akt konnte beginnen.

Man drang in die Wohnungen der Juden ein und trieb alle Bewohner aus den Häusern auf den Marktplatz oder in die Synagoge. Kranke, Säuglinge wurden getragen. Man sagte ihnen, daß sie anderwärts zur Arbeit benötigt und zeitweilig umgesiedelt würden, und hieß sie, die notwendigen Kleidungsstücke mitzunehmen. Auf den Straßen, Plätzen [und in den] Synagogen spielten sich bereits die schrecklichsten Szenen ab. Man schlug die Juden mit Knüppeln und Gewehrkolben, entriß ihnen die herbeigeschleppten Sachen, [trennte] Kinder von Müttern, bespie und verhöhnte sie. Dann wurden sie geschlossen aus der Stadt getrieben.

An vielen Orten hatte man einige Tage vorher jüdische Ingenieure mit Hilfspersonal geholt und sie unter dem Vorwand, Brunnen graben zu müssen, im Walde oder auf freiem Felde breite Gruben ausstechen lassen. Nachdem sie die Arbeit ausgeführt hatten, wurden sie an Ort und Stelle erschossen.

Zu diesen Gruben wurden die Juden geführt. Ihre Bündel mußten sie auf einen Haufen legen und ihre Oberkleidung ausziehen. So wurden sie halbnackt in Partien an den Rand der Gruben getrieben und mit Maschinengewehren erschossen. Zuerst die Kranken, Alten, dann die Kinder und Frauen, zuletzt die Männer. Die Erschossenen fielen in die etwa zwei Meter tiefen Gruben. Verwundete wurden erstochen oder erschlagen.

Das Gemetzel währte an vielen Orten den ganzen Tag. Bevor die Reihe an sie kam, waren die Unglücklichen Zeugen, wie man die anderen abschlachtete. Wenn die Gruben, in denen die Toten in vielen Schichten übereinanderlagen, voll waren, wurden die Juden gezwungen, sie zuzuschütten, nachdem man die Leichen aus» hygienischen Gründen «mit calcium chloratum bestreut hatte. Kleine Kinder wurden lebendig in die Gruben geworfen und verschüttet. Manche Männer setzten sich zur Wehr, sprangen den Exekuteuren an die Gurgel und zogen sie mit in das grauenvolle Massengrab.

Die Exekuteure waren überall litauische» freiwillige «Partisanen. Deutsche Polizei und Wehrmacht leitete und überwachte die Handlung. Wo die Litauer schlappmachten, wurden sie mit Alkohol aufgemuntert. An vielen Orten wurden die Szenen von deutschen Filmakteuren aufgenommen. Bei den Aufnahmen wurde darauf geachtet, daß nur litauische Exekuteure auf die Platte kamen. Die Deutschen bemühten sich später, den Tatbestand zu fälschen, als ob litauische Initiative in» gerechter Volkswut gegen die jüdischen Ausbeuter «die Gemetzel veranstaltet habe.

Alles geschah am hellichten Tage. Tausende von Litauern waren Augenzeugen. Litauische Geistliche, höhere Beamte, frühere Offiziere versuchten einzuschreiten. Einige Beherzte, die das Schreckliche zu verhindern suchten, büßten mit ihrem Leben. Der Blutrausch führte zu entsetzlichen Exzessen. Jüdische Mädchen wurden von den Henkern in den Busch gezerrt und geschändet, bevor sie getötet wurden. Einer dieser Mörder wurde wahnsinnig, beschrieb hinterher immer wieder, wie sein Opfer still seine Schuhe ausgezogen und nebeneinander gestellt habe, wie unschuldig und lieblich sie gewesen sei – er konnte das Bild nicht ertragen und beging Selbstmord.

Als die ersten Berichte zu uns nach Kaunas drangen, wollte man sie nicht glauben. Ich habe später viele Augenzeugen aus verschiedenen Städten gesprochen. Man hat mir noch viele Einzelheiten genau berichtet. Die Exekutionen hatten eine schauerliche Ähnlichkeit untereinander und endeten überall mit der vollständigen Vernichtung der Juden. Nur in vier Städten, Wilna, Kaunas, Schaulen und Semeliškes[47], wurden Ghettos errichtet, nicht etwa um das Leben der Juden zu schonen. Nein, schon damals wurde auch [über] diesen der Stab gebrochen, aber man brauchte Arbeitskräfte, die man vor ihrer Vernichtung noch ausnutzen wollte.

Von unseren Freunden aus dem Ghetto bekamen wir auf Umwegen Briefe – Briefe des Jammers, der Sehnsucht, der Verzweiflung. Von» namenlosem Leid «schrieb Lyda. Sie hatten nichts zu essen, keine Heizung, aber das waren ihre geringsten Sorgen.

Wir schickten Päckchen durch Lydas Bruder, der in einer Brigade in der Stadt arbeitete. Durch diese und andere Brigaden waren wir in ständiger Verbindung mit den Juden im Ghetto und litten mit ihnen die entsetzlichen Verbrechen, deren unschuldige Opfer sie waren. So teuflisch, so unbeschreiblich entsetzlich war diese Folge von Untaten, daß die Sprache sich sträubt, sie festzuhalten. Sie wird vielen unglaubhaft erscheinen, und doch ist es jeden Deutschen Pflicht, sich nicht zu verschließen und die Kraft zu haben, die Schuld auf sich zu nehmen, damit sie gesühnt werde.

Der Verkehr der deutschen Stellen mit dem Ghetto vollzog sich über den von den Juden gewählten Ältestenrat.[48]Zu Verhandlungen ließ man den Vorsitzenden Dr. Elkes oder einen Stellvertreter in die Stadt kommen. Bei diesen Aussprachen wurden die Vertreter der Juden mit korrekter Höflichkeit behandelt. Bitten, Einwände, Fürsprachen wurden gewissenhaft angehört, und man ließ sich oft herbei, sich von Maßnahmen betreffs des Ghettos etwas abhandeln zu lassen. Sie verhielten sich menschlich zu den unmenschlichen Anordnungen, und gerade in diesem Zynismus enthüllte sich ihre teuflische Gesinnung.

Mitte September wurden circa 5000»Handwerkerausweise«[49] ausgegeben, die durch das Komitee verteilt wurden. Sie wurden in erster Linie Spezialisten, Männern und Frauen, aber auch andern arbeitskräftigen Personen, darunter auch einige Ärzte, gegeben, aus denen die Arbeitsbrigaden formiert wurden. Aus den Städten der Provinz waren einzelne den Massenmorden entgangen und hatten sich in das Kaunaer Ghetto geflüchtet. Durch diese wurden die Greueltaten in allen Einzelheiten bekannt, und man erwartete täglich ein gleiches Schicksal. Die Handwerkerausweise wurden als eine gewisse Sicherung angesehen. Die Deutschen ließen durchblicken, daß man die Inhaber und ihre Familien verschonen werde. Jeder bemühte sich deshalb, eine solche Ausweiskarte zu bekommen.

Am 17. September, wenige Tage nach der Verteilung der Handwerkerausweise, wurde früh um sechs Uhr das sogenannte» Kleine Ghetto «von litauischen Partisanen umzingelt und mit Maschinengewehren umstellt. Das Kleine Ghetto war der Teil jenseits der Paneriu-Straße, einer Hauptverbindungsstraße in die Provinz, auf die man im öffentlichen Verkehr nicht verzichten wollte und die man deshalb mit einem Viadukt überbrückt hatte, der die Verbindung zwischen den beiden Ghettos herstellte. Im Kleinen Ghetto wohnten ungefähr 3000 Einwohner. Dort befanden sich das Waisenhaus, das Krankenhaus und andere soziale Institutionen.

Die Partisanen gingen von Haus zu Haus, holten die Leute aus den Betten und befahlen allen, sich auf dem großen Platz zu versammeln. Man ließ vielen nicht einmal Zeit, sich anzukleiden. Nicht einer durfte zurückbleiben; Kranke wurden getragen. Auf dem Platz wurden sie von deutschen Soldaten unter Leitung von Thornbaum in Gruppen eingeteilt, und man begann sie zum IX. Fort, das circa eine halbe Stunde hinter dem Ghetto liegt, zu treiben. Einen Tag vorher hatte sich schon herumgesprochen, daß russische Kriegsgefangene auf dem Fort lange Gruben geschaufelt hatten, deren Bedeutung nach den Ereignissen in der Provinz eindeutig war. Allen war klar, daß sie von diesem Weg nicht zurückkehren würden, und diesmal bemühten sich die Henker nicht, Illusionen zu wecken. Auf dem Platz waren Filmapparate aufgestellt, die unaufhörlich arbeiteten.

Da erschien plötzlich ein Auto auf dem Platz. Es entstieg ihm ein höherer Offizier mit einem Zettel in der Hand. Nach kurzer Verhandlung mit dem Leiter der Aktion, Thornbaum, wandte sich der Offizier an die Versammelten mit den Worten:»Die Aktion ist abgeblasen. Ihr könnt der deutschen Wehrmacht danken, daß sie euch das Leben schenkt. «Das Wort» abgeblasen «ging von Mund zu Mund. Da es ein solches Wort auf jiddisch nicht gibt, verstanden es viele nicht gleich. Aber allen wurde sofort offenbar, daß es eine gewaltige Zauberkraft hatte. Die Gruppen, die sich schon auf dem Wege befanden, wurden zurückgeholt, die Filmtechniker stellten die Kurbeln ab, und alle wurden mit einem Gleichmut, als wenn es sich um einen verregneten Spaziergang handelte, beordert, nach Hause zu gehen.

Jordan versicherte nach diesem Ereignis dem Komitee, daß keine» Aktionen «mehr vorkommen würden, und die Juden waren naiv genug, es ihm zu glauben. Gerade, daß die Aktion» abgeblasen «wurde, nahmen sie für ein Zeichen, daß die deutsche Wehrmacht sich für sie eingesetzt und aus Gründen der Menschlichkeit eine prinzipielle Änderung erwirkt hatte. In Wirklichkeit wird der Grund wahrscheinlich rein praktischer Art gewesen sein: Man brauchte Arbeitskräfte und wollte der jüdischen Sklaven nicht entraten.

Der größte Teil der jüdischen Arbeitenden wurde auf dem Aerodrom beschäftigt, damals etwa 1200 Männer und 500 Frauen. Sie hatten zur Arbeitsstätte einen weiten Weg zurückzulegen. Früh war gegen halb sechs Uhr Appell. Sie mußten oft über eine Stunde in Dunkelheit und Morgenkälte stehen, ehe sich der Zug in Bewegung setzte. Der Weg ging über die Vilijabrücke durch die belebtesten Straßen der Altstadt, an den beiden Marktplätzen vorbei, über die große Njemenbrücke und dann den Berg zum Flugplatz hinauf. Jüdische Polizei, durch eine Armbinde gekennzeichnet, war für die Ordnung verantwortlich. Jede der dunklen Gestalten war auf Brust und Rücken mit einem gelben Stern gezeichnet, die im spätherbstlichen Dämmer aus den Zügen herausleuchteten.

Es war bitter, zu sehen, wie schnell sich die städtische Bevölkerung an das ergreifende Bild gewöhnte und völlig gleichgültig an den Gezeichneten vorüberging. Warum empörten sie sich nicht gegen diese hohnvolle Mißachtung jeder Menschenwürde? Warum duldeten sie nur diese Schande, diese Niedertracht? Im Gegenteil, die Deutschen hatten ganz richtig spekuliert. Auch der erbärmlichste Litauer war ein gehobener Mensch im Vergleich zu den Juden, und die deutsche Verwaltung konnte sich manche Härten gegen die Litauer erlauben, weil sie milde erschienen gegen die Grausamkeiten, die sie den Juden antat.

Und dennoch gab es viele, nicht nur unter der Intelligenz, die ihr Teil dazu beitrugen, den Unglücklichen ihr Los zu erleichtern. Wenn wir am späten Nachmittag an der Njemenbrücke die Heimkehrenden abpaßten, standen dort jedesmal schon einige Frauchen mit Handtaschen und lauerten wie wir, sich ängstlich umsehend, bis die Erwarteten endlich herankamen. Viele von ihnen kannten uns. Sie grüßten unauffällig. Endlich kamen auch unsere Freunde. Vor den jüdischen Posten hatten wir keine Angst, aber unter den deutschen Soldaten, die den Zug flankierten, gab es gefährliche. Die meisten allerdings duldeten diese verbotenen Beziehungen, und fast immer gelang es, schnell unsere Päckchen und Briefchen abzugeben. Zum Miteinandersprechen war niemals Zeit. Erst viel später erfuhren wir Einzelheiten über das Leben auf dem Flugplatz.

Es wurde dort in drei Schichten gearbeitet, Tag und Nacht, ohne Unterbrechung. Zwei deutsche Baufirmen waren die Unternehmer des Flughafenbaus. Die Juden wurden zu allen untergeordneten physischen Arbeiten verwendet. Sie mußten Steine tragen, den Boden planieren, Wäsche waschen, Waggons ausladen. Die Meister der Baufirmen waren harte, herzlose Leute, die die Arbeit zur Sklavenfron herabdrückten. Die Tagesleistung wurde mit 50 Pfennig entlohnt, ein Hohn bei den damals herrschenden Lebensmittelpreisen (Butter und Speck 20 bis 25 Reichsmark pro Kilo). Während der ersten Monate bekamen sie dort nichts zu essen, im Winter wurden Küchen eingerichtet. Die Produkte wurden geliefert.

In so einer Küche arbeitete auch meine Lyda und hatte so wenigstens einige Stunden täglich einen warmen Platz. Edwin war auch auf dem Flugplatz, als Sanitäter. Die» Küche «war ein Schuppen mit einem eisernen Herd. Dort waren etwa dreißig Frauen mit den Vorbereitungen der Mahlzeit beschäftigt. Das Essen wurde in großen Kesseln dreimal täglich für circa je 1500 Personen gekocht. Die Kessel standen außerhalb der Küche im Freien, mit einem Bretterdach überdeckt. Der Lehmboden um Schuppen und Kessel war vom Regen aufgeweicht. Nach Arbeitsschluß mußten alle in Brigaden geordnet den Modder durchwaten, um am Kessel in ihrem mitgebrachten Eßnapf einen Schlag Suppe zu empfangen.

Sie waren erfroren und todmüde, dennoch gab es jedesmal Krawall. Einer wollte zu wenig bekommen haben, andere waren unzufrieden, daß man ihnen nur Brühe, aber kein Fleisch und Kartoffeln eingeschöpft hätte. Die deutschen Posten, die selber müde und mißgestimmt waren, trieben zur Eile, schlugen mit dem Gewehrkolben und hetzten: Schneller, schneller! Manchmal war ihre Rauheit nur äußerlich. Oft riefen sie die Arbeitenden an die Schuppenwand, um beim Essen gegen den Wind geschützt zu sein, [oder] zum Feuer, damit sie sich erwärmten, und hatten tiefes Verständnis dafür, daß man so wenig als irgend möglich arbeitete. Die Meister der Baufirmen dagegen waren hinterher, daß möglichst viel geleistet wurde. Sie schlugen die Säumigen erbarmungslos und zwangen [sie] zu ägyptischer Fron und Knechtschaft.

Auch russische Gefangene arbeiteten auf dem Aerodrom, schweigend und schwach vor Hunger. Gelegentlich mußten Juden, die fast alle Deutsch und Russisch verstehen, Dolmetscher spielen. So arm und elend sie waren, sahen sie in den Russen die noch Bedürftigeren, und manches mitgebrachte Stück Brot ließen sie heimlich in die Hände der Gefangenen gleiten.

Zog die Nachtschicht im trüben Morgendämmer den Berg herunter nach Hause, war die neue Schicht schon da, übernahm die Spaten, Schippen und Körbe und setzte das verhaßte Werk widerwillig und mühsam fort. Wie lange? fragten sie sich täglich. Täglich schwirrten neue Gerüchte. Auf den Forts gräbt man wieder Gruben. Nachts schießen die Posten sinnlos in die Luft, um die Eingeschreckten noch mehr einzuschrecken. Es werden neue Zählungen, Einteilungen gemacht. Verhandlungen mit dem Ältestenrat, über deren Ergebnis die verschiedensten Auslegungen kursieren. Die Soldaten beruhigten die Flugplatzarbeiter: Wenn ihre Arbeit auch schwerer als die der andern sei, so gewähre sie doch auch die größte Sicherheit. Vor drei bis vier Jahren sei der Flughafen nicht beendet, so lange brauche man die Arbeiter.

Es blieb den Ghettobewohnern nicht lange Zeit, sich von der» abgeblasenen «Aktion zu beruhigen. In der Nacht zum 26. September wurden sie durch besonders häufig abgegebene Schüsse auf neue Mordtaten vorbereitet. Morgens von vier Uhr ab wiederholten sich die Szenen des 17. September. Deutsche Polizei, SA-Männer und litauische Partisanen drangen in die Häuser eines Quartals[50] des Ghettos ein und jagten die Schlafenden heraus auf einen Platz, wieder mit Kindern, Alten, Kranken. Maschinengewehre mit Bemannung waren auf den Dächern der umliegenden Häuser aufgestellt. Die Inhaber eines Handwerkerausweises wurden mit ihren Familien nach Hause entlassen. Die andern ordnete man in Trupps und führte sie unter schwerer Bewachung aus dem Ghetto heraus nach dem IX. Fort. Die nicht gehen konnten, wurden in Lastautos verladen. Man sagte ihnen, daß sie in ein anderes Ghetto gebracht würden.

Dort [im IX. Fort] vollzog sich dieselbe entsetzliche Prozedur wie an den Juden der Provinzstädte. Etwa 3000 wurden mit Maschinengewehren erschossen und verscharrt.[51] Ihre Kleider, die sie vorher ablegen mußten, wurden in Lastautos in die Desinfektionsanstalt gebracht. Die Ghettobewohner, die sich ansehen mußten, wie man ihre Brüder abführte, ohne daß es eine Möglichkeit gab, sich zur Wehr zu setzen, zu fliehen, einander zu helfen, waren in panikartiger Verzweiflung. Jordan, der die Aktion geleitet hatte, versprach ihnen, daß dies die letzte gewesen sei und keine Exekutionen mehr vorkommen würden. Man klammerte sich an seine Worte, ohne ihnen zu trauen.

Am 2. Oktober erschien Jordan mit seiner Karawane wieder beim Komitee. Sie besichtigten die sozialen Einrichtungen, die im Kleinen Ghetto waren, insbesondere das Krankenhaus. Sie ordneten an, neben dem Krankenhaus Gruben zu graben.

In der Nacht zum 4. Oktober wurden wieder besonders viele Schreckschüsse abgegeben, die die Ghettobewohner auf neues Unheil vorbereiteten. Als die Aerodrombrigaden, die im Kleinen Ghetto wohnten, von der Nachtschicht heimkehren wollten, fanden sie den Viadukt, der die beiden Ghettos miteinander verband, gesperrt. Ein Maschinengewehr drohte nach der Richtung zum Kleinen Ghetto, das von allen Seiten von Militär umzingelt wurde. Die Menschen wurden aus den Häusern geholt, versammelt, eingeteilt, die Arbeitskräftigen ausgesucht, alle übrigen zum IX. Fort getrieben. Darunter das gesamte Waisenhaus, circa 150 Kinder, mit allen Lehrern und anderem Personal. Allen war klar, welche Absichten man mit ihnen hatte. Die Kinder schrien und weigerten sich zu gehen. Auch Erwachsene versuchten, auf dem Weg zu ihrer Richtstätte zu entlaufen. Sie wurden mit Kolben und Gummiknüppeln geschlagen. Einige brachen tot zusammen.

Gegen Mittag wurde das Krankenhaus mit Brennstoff begossen und von allen Seiten in Brand gesteckt. Als das Personal versuchte, die Kranken zu retten – man trug sie in Bahren auf den Hof – , wurden sie daran verhindert. Die Flammen griffen schnell um sich. Das ganze Haus verbrannte mit allen Kranken. Zwei Schwestern und ein Arzt (Dr. Davidovich) wurden bei dem Versuch, Kranke zu retten, auf dem Hof erschossen. Alle Insassen der Infektionsabteilung, 45 Kranke, verbrannten bei lebendigem Leibe. Das Kommando führte SA-Sturmbannführer[52] Thornbaum. Der Stadtkommissar Cramer erschien zu dem grausigen Schauspiel und sagte, die Verbrennung des Krankenhauses sei eine» hygienische Vorsichtsmaßnahme«, um die Ausbreitung von Lepra zu verhüten. In Wirklichkeit gab es dort keinen Leprakranken. Die Infektionskranken hatten Scharlach, Typhus, Tbc, Diphtherie. Mit dem Krankenhaus verbrannten wertvolle medizinische Apparate, ein X-Strahlenapparat, zehn Elektrokardiographen.

Die Menschen sahen vom Großen Ghetto, was auf der andern Seite der Paneriu-Straße geschah. Sie versuchten, den Zugang über den Viadukt zu erzwingen. Die Posten schlugen sie zurück und drohten, man würde jeden, der sich nicht ruhig verhielt, mit zum IX. Fort bringen. Vom Großen Ghetto konnte man sehen, wie sich der traurige Zug der zum Tode verurteilten ca. 2000 Menschen den Berg heraufbewegte, flankiert von deutschen und litauischen Posten, die sie mit Schlägen vorwärtstrieben. Viele, die vom Flugplatz gekommen waren, wußten ihre Eltern, Frauen und Kinder darunter. Die Henker höhnten über ihre Verzweiflung.

Diejenigen vom Kleinen Ghetto, die man vorläufig aufgespart hatte, um sie noch zur Fronarbeit auszubeuten, mußten nun das Kleine Ghetto verlassen. Sie durften nichts mitnehmen. Die Häuser jenseits der Paneriu-Straße standen leer. Partisanen und deutsche Soldaten plünderten nach Herzenslust. Auch Zivilbevölkerung kroch durch den Drahtzaun und räuberte. Nach zwei Tagen erlaubte man den früheren Bewohnern, sich aus ihren alten Wohnungen zu holen, wieviel ihre Hände tragen konnten. Unter ihnen waren unsere Freunde. Edwin hatte als Sanitäter den Brand des Krankenhauses miterlebt. Lyda schleppte aus der unterdessen ausgeräuberten Wohnung noch einiges mit auf die andere Seite. Sie zogen zu ihrem Bruder.

Als die Juden klagten, man habe ihnen doch versprochen, daß keine Exekutionen mehr vorkommen würden, erwiderte Jordan, diesmal sei es eine» Sondermaßnahme «gewesen, aber das sei nun wirklich die letzte, und die Überlebenden hätten nichts mehr zu fürchten, vorausgesetzt, daß sie sich gut verhielten. Wieder klammerten sich die Unglücklichen, die keine andere Möglichkeit einer Rettung sahen, an dieses verlogene Versprechen.

Die feinen deutschen Herren erfanden bald genug einen neuen Vorwand für ihre teuflischen Verbrechen. In der Nähe des Tores ertönte eines Tages ein Schuß. Es wurde behauptet, daß ein junger Mann ein Attentat auf den Chef der Ghettowache Koslowski beabsichtigt hätte. Das Quartal wurde abgesperrt und etwa 1000 Menschen als des Mordanschlags oder der Beihilfe verdächtig festgenommen und zum IX. Fort abgeführt.[53]

Die Ghettoleute erwarteten mit jedem neuen Tag den Tod. Der Herbst war gekommen. Es wurde kalt und regnete viel. Am 26. Oktober wurde der Ältestenrat von Jordan zu einer Besprechung aufgesucht. Nach langen Verhandlungen gab der Ältestenrat durch ausgehängte Zettel bekannt, daß sich am 28. Oktober, sechs Uhr früh alle Einwohner ohne Ausnahme auf dem großen Platz einzufinden hätten. Für warme Kleidung und Nahrung für den ganzen Tag sei zu sorgen. Es handele sich, so wurde wieder ausdrücklich versichert, um eine friedliche Maßnahme, und zu Aufregung sei kein Grund vorhanden. Man munkelte, daß man die Arbeitsunfähigen in das» Kleine Ghetto«, das seit dem Krankenhausbrand und der Evakuation leer stand, umsiedeln würde. Sie würden dort geringere Lebensmittelkarten als die Arbeitenden bekommen.

Ein großes Aufgebot von Wachtposten füllte die Straßen, sorgte dafür, daß keiner zu Hause blieb. Ein paar Kranke, die man doch fand, erschossen die Posten an Ort und Stelle. Pünktlich um sechs Uhr waren alle Häuser und Straßen leer. Etwa 28000 Menschen waren auf dem kahlen Gelände versammelt. Die jüdische Ghettopolizei, durch Armbinden kenntlich, sorgte für Ordnung.

Es wurden einzelne Kolonnen gebildet, die sich eine neben der andern, mit der Front nach Nordwesten aufstellen mußten. In der ersten Kolonne standen die Mitglieder des Ältestenrates, jeder mit seiner Familie. In der zweiten die Polizei, dann die Angestellten der Administration und schließlich alle Brigaden, nach ihren Arbeitsplätzen geordnet, alle mit ihren Familien. So warteten sie fröstelnd am trüben, kalten Morgen zwei Stunden, bis gegen acht Uhr die deutsche Kommission anrückte. Jordan, der Beauftragte für jüdische Angelegenheiten der Zivilverwaltung, Thornbaum, Stütz, Rauca, Vertreter der Gestapo, mehrere andere Deutsche, ein litauischer Fliegeroffizier. Sie pflanzten sich vor den Kolonnen auf und ließen eine Kolonne nach der andern langsam vorbeiziehen.

Aus den beiden ersten wurden nur wenige ausgesucht und nach rechts befördert. Die übrigen ließ man nach links gehen. Aber schon aus den nächsten wurden mehr herausgepickt. Anfangs verstand keiner den Sinn dieser Teilung in Schafe und Böcke. Aber allmählich trat das Prinzip klar hervor: nach links kamen die Kräftigen, Arbeitsfähigen, gut Gekleideten, nach rechts die Alten, Kranken, Armen, besonders auch die mit ausgeprägt jüdischer Physiognomie.

Am eifrigsten war Rauca. Er überprüfte jede Kolonne mit scharfem Blick, trennte besonders gern große Familien, ließ sein Kommando unermüdlich erschallen. Zwischendurch biß er in sein Butterbrot, rief seinen Hund, der nach fallengelassenen Frühstücksbroten der Juden schnappte. Diese Arbeit der Teilung versetzte ihn in behagliche Stimmung. Auch den anderen Herren bereitete sie größtes Vergnügen. Die Juden begriffen, daß»rechts «etwas Böses bedeutete. Einige benutzten einen unbeobachteten Augenblick, um schon vor der Prüfung nach den» Linken«überzulaufen. Andere protestierten, wenn man sie nach rechts verurteilen wollte, zeigten ihre Handwerkerausweise oder nahmen die Protektion der jüdischen Polizeibeamten, die einen gewissen Einfluß hatten, in Anspruch.

Gerüchte schwirrten. Die Kommission beruhigte wie immer: man brauche einen Teil für auswärtige Arbeit, Straßenbau. Es klang nicht überzeugend, denn die Ausgewählten taugten offenbar nicht zu schwerer Arbeit. Bei den nach links» Geretteten «umarmten sich Verwandte und Freunde. Man jammerte und weinte, wenn ein Teil der Familie abgetrennt wurde. So verging der ganze Tag. Allmählich bekam auch die Kommission ihre düstere Tätigkeit satt. Zuletzt wurden ganze Kolonnen geschlossen nach der einen oder der andern Seite geschickt.»Ihr werdet mir noch dankbar sein, daß ich euch von diesem Mistzeug befreie«, tröstete Rauca die Linken.

Die Rechten wurden streng bewacht über den Viadukt ins Kleine Ghetto geführt. In der Nacht gelang es trotzdem noch manchen, überzulaufen. Auch die Wache ließ sich bestechen.»Lauft blonde Mädels!«verhalfen deutsche Wachtposten, die erstaunt waren, nicht Stürmertypen[54], sondern sehr liebliche Erscheinungen zu treffen, einigen nach der anderen Seite.

Am nächsten Morgen führte man alle aus dem Kleinen Ghetto nach dem IX. Fort. Russische Gefangene hatten einige Zeit vorher Gruben gegraben, die sich vom Herbstregen mit Wasser halb angefüllt hatten. Man entriß den Müttern ihre Kinder und warf sie vor ihren Augen in die Gruben. Die Frauen folgten nach. Man erschoß sie mit Maschinengewehren. Sie fielen über die Kinder. Zuletzt die Männer. Wieder war für Hygiene gesorgt. Bevor die Gruben zugeschüttet wurden, bestreute man die Leichen reichlich mit calcium chloratum.

So wurden an einem Tage 10000 unschuldige Menschen teuflisch niedergemetzelt. Mit ihnen viele andere Gefangene [und] alle Juden, die sich damals im Gefängnis befanden, darunter war auch mein eigenes Kind, meine Marie.[55]

Die Nachricht von dieser Untat drang bald in die Stadt. Versuche der Geistlichkeit und Intelligenz, bei den deutschen Stellen vorstellig zu werden, scheiterten. Jedem Vermittler legte man» kommunistische «Absichten unter und drohte mit Bestrafung. Durch Soldaten und Partisanen, die beordert waren, bei dem grauenhaften Werk zu helfen, wurden alle Einzelheiten auch im Ghetto bekannt. Das Entsetzen, die Verzweiflung war grenzenlos, und wenn die Mörder ihnen wieder versicherten, daß es nun ganz gewiß die letzte» Aktion «gewesen sei und den Übriggebliebenen nichts geschehen werde, so gab es viele, die sich nicht mehr beruhigen ließen. Damals begannen manche, ihre Flucht aus dem Ghetto vorzubereiten.

Es gab in Kauen[56] nicht wenig Menschen, die in tiefer Empörung über die Verbrechen waren. Aber nur wenige waren bereit, einen der Unglücklichen aufzunehmen und zu retten. Die Gestapo hatte es verstanden, die Bevölkerung einzuschüchtern. Ein Dorf mit vorwiegend russischen Bauern, bei denen sich Juden versteckt hielten, wurde niedergebrannt, die Bauern mit Familien teils erschossen, teils zur Zwangsarbeit verschickt. Man verhaftete Leute, die in die Brigaden gingen, hängte ihnen Schilder mit der ehrenvollen Aufschrift» Judenknecht «um und führte sie durch die Straßen. Wenn man einen Juden in der Stadt fand, wurde er zusammen mit dem, der ihn versteckt hielt, erschossen.

Trotz alledem gab es Unerschrockene, die es darauf ankommen ließen. Bei Frau Dr. Kutorga, der Augenärztin, der Mutter von Viktor, lebte eine Jüdin wochenlang in der Küche, bis es mit Hilfe ihres deutschen Mannes und eines Eisenbahnbeamten, der Patient der Ärztin war, gelang, sie mit falschen Papieren nach Berlin zu expedieren, wo sie unerkannt als Deutsche weiterlebte. Frau Dr. Kutorga hielt die Beziehungen zu ihren jüdischen Kollegen ununterbrochen aufrecht. Sie trug fast täglich Lebensmittel, die ihr bäuerliche Patienten vom Lande brachten, in die Brigaden, bewahrte ihnen Wertgegenstände und half ihnen, sie zu verkaufen. Jedes Wort, das sie mit ihren Patienten, mit Bekannten sprach, war Aufklärung, gegen die Verbrecher gerichtet. Reine Menschlichkeit war jede ihrer Taten und [jedes] ihrer Worte.

Das konnte nicht lange unverborgen bleiben. Mißgünstige Hausgenossen verklagten sie. Nachts gab es Haussuchungen, man beorderte sie zu Verhören auf die Polizei. Da sie sehr gut deutsch sprach und sie die Rolle der zu Unrecht Angeschuldigten glaubhaft spielte, ließ man sie wieder frei, nachdem sie schriftlich erklären mußte, daß sie sich künftig von jeder antideutschen Aktivität, vor allem von jeder Beziehung zu den Juden fernhalten würde. Sie unterschrieb und pflegte ihre verbotenen Beziehungen unerschrocken weiter. Wenn ich zu ihr kam, hörten wir zusammen die ausländischen Sender. Damals ging die deutsche Wehrmacht noch im Sturmschritt vorwärts. Aber wir ließen uns den Glauben nicht nehmen, daß es ein Ende haben würde mit diesen Siegen, diesen unermüdlichen Verbrechen an anderen Völkern, der Überheblichkeit, Grausamkeit, Bestialität.

Zweites Heft

Noch nie war der Herbst so kalt, so dunkel, so trostlos gewesen wie in diesem Jahr. Wir verrichteten mechanisch unsere Tagesarbeit. In Gretchens Dienststelle ahnte keiner, was das junge Kind mit sich trug. Ihr Verhalten, ihre Gesten waren ebenso verschwiegen wie ihr Mund. Ich sah die Zeichen, die das Leid auf ihr junges Gesicht setzte, wie sie mit jedem Tag blasser wurde. Ich wartete täglich mit Ungeduld auf ihr Kommen nach dem Dienst. War sie einmal nicht ganz pünktlich, lief ich auf die Straße, ihr entgegen. Entsetzliche Befürchtungen schnürten mir die Kehle. Dieselben Ängste überfielen sie, wenn ich einmal nicht ganz pünktlich zu Hause war. Diese Sorge umeinander, die immerwährende Furcht, daß wir auseinandergerissen werden könnten, verließ uns keine Stunde. Sie blieb. Sie hielt uns ständig in Atem, bestimmte unser Denken und Tun.

So glaubten wir, daß es für Grete besser wäre, statt in einem privaten Übersetzungsbüro lieber in einer öffentlichen Dienststelle zu arbeiten. Ich vertraute mich einem der Generalräte an, von dem ich wußte, daß er trotz seiner hohen Stellung ein leidenschaftlicher Feind der Nazis war.[57] Er nahm Grete als Privatsekretärin in seine Behörde auf und versprach, sie unter seinen besonderen Schutz zu stellen.

Ein paar Tage waren wir beruhigt, aber da fingen ihre Kollegen zu tuscheln an. Sie fragten herausfordernd, wer und wo ihr Vater sei.»Etwa im Ghetto?«rätselte ein platinblondes, impertinentes Fräulein, und der Übersetzer Bukauskas erging sich in allgemeinen Antisemitismen. Der Generalrat, der in der letzten Zeit ständig in schwerem Alkoholrausch stand, hatte das Geheimnis verraten.

Nach einer Woche kam Gretchen noch bleicher als sonst nach Hause.»Es ist aus mit uns. Alle wissen über mich Bescheid. Alle sprechen darüber. Der Generalrat will mit dir sprechen. «Sie war so erregt, so schwach, daß sie nicht essen konnte. Wir ließen unsere Suppe stehen und suchten den Generalrat in seiner Privatwohnung [auf], die sich im Hause seiner Behörde befand. Er zog uns in seine Stube.

«Es steht schlecht mit euch. Die Polizei sucht euch. Ihr könnt hier nicht bleiben, ihr müßt fliehen. Bleibt vorläu-fig bei mir, hier wird euch niemand suchen. «Der Rat schrieb einen Brief an seine Geschwister, die im Memelgebiet[58] in einem einsamen Walde ein Gut hätten. Dort sollten wir uns versteckt halten. Seine Geschwister seien einfache Bauern. Aber, sagte er gleich, sie würden uns nur gegen gute Bezahlung aufnehmen. Ich sagte ihm, daß ich kein Geld hätte, nur die goldene Uhr meines Mannes und einige Schmuckgegenstände. Ich solle ihm alles bringen, er werde uns dafür Geld schicken. Wir blieben die Nacht bei ihm, lagen angekleidet zusammen auf dem großen Bett, und Gretchen schlief an meiner Seite sofort ihren tiefen Kinderschlaf. Der Rat schlummerte auf dem Lehnstuhl.

In der Nacht stand er leise auf, schlüsselte an einem Schränkchen. Gretchen schreckte auf. Vielleicht will er uns vergiften, damit wir von unserer Qual befreit werden? Aber nein, im Schränkchen standen verschiedene Flaschen, Cognac, Rum. Er trank, trank und trank wieder. Er bot jedesmal auch mir an. Ich begoß mit meinem Gläschen unbemerkt den verkümmerten Blumentopf auf dem Schreibtisch. Er erzählte von seinem Leben, wie er früher Priester gewesen sei und später geheiratet habe. Und dann beschrieb er alle Einzelheiten der Bestialitäten der Deutschen, wie sie die Juden in den Provinzstädten umgebracht haben. Dabei sah er immer wieder auf das schlafende Gretchen.»Dies Kind soll leben!«Schließlich war er ganz verwirrt, fragte wiederholt, welche Sprache ich eigentlich spräche, sprach englisch mit mir und wiederholte:»Dies Kind soll leben!«Er hing ihr ein Amulett an silbernem Kettchen um und mahnte, wenn sie gerettet werde, katholisch zu werden.

Am Morgen schlief er auf seinem Lehnstuhl ein. Ich lief nach Hause, holte die besprochenen Wertsachen. Als ich zurückkam, traf ich schon die Angestellten des Generalrats, die sorglos und ausgeschlafen in den Dienst kamen. Wir besprachen die Einzelheiten der Flucht. Der Rat telefonierte mit dem Direktor des Lebensmitteltrusts. Am nächsten Tage sollte uns ein Lastauto mit nach Krottingen nehmen. Er gab uns eine Fahrbescheinigung, daß wir» dienstlich «nach Krottingen reisen müßten. Von dort müßten wir uns selbst weitere Fahrgelegenheit suchen.

Wieder rüsteten wir zur Flucht. Unsere Köfferchen standen noch von früher gepackt. Aber in der hellen Mittagsstunde erschien mir auf einmal alles in anderem Lichte. Vielleicht hat der Rat in seinem Rausche alles schwärzer gesehen, als es ist. Und wozu fliehen? Was sollen wir den langen Winter bei den fremden Bauern? Womöglich wollen sie uns gar nicht aufnehmen. Und schon waren wir beide entschlossen, hier zu bleiben. Wir waren jetzt ganz ruhig. Die blasse Novembersonne beleuchtete für kurze Zeit die Küche. Wir hatten seit gestern früh nichts gegessen. Wir machten Feuer im Herd, wärmten unsere Suppe und aßen. Der vergangene Tag erschien wie ein böser Spuk. Wir waren zu schwach zur Flucht, aber von einem unbegreiflichen Irgendwoher kam uns auf einmal tiefer Trost und Ruhe.

Am andern Morgen ging ich allein zum Rat, erklärte ihm unseren Entschluß, erbat die Wertsachen zurück. Er war diesmal nüchtern, und auch ihm erschien jetzt die geplante Flucht zu phantastisch, so daß er zufrieden war mit unserem Entschluß. Aber Gretchen solle nicht mehr in den Dienst kommen. Er fürchte die bösen Zungen der Mitarbeiter. Aus meinem Schmuck habe er sich erlaubt, ein Stück zu nehmen, um es einer Schauspielerin zu schenken, der Frau eines Angestellten.»Als Schweigegeld«, erklärte er. Es war eine Brosche, die ich gern getragen hatte, eine kleine Blume aus Gold und Perlen, ein altmodisches Erbstück aus der Familie meines Mannes. Wenn wir in Gefahr seien, könnten wir jederzeit auf ein paar Tage zu ihm kommen, wenn nötig, auch später noch zu seinen Verwandten fahren. Einige Zeit später wurde er seines Amtes entsetzt, verhaftet und in ein Konzentrationslager nach Deutschland verschleppt. Man hat nicht wieder von ihm gehört.

1 Die Buchhandlung, die Max Holzman 1923 als Filiale der Breslauer Buch- und Lehrmittelhandlung Priebatsch in Kaunas gegründet hatte, wurde nach der Besetzung Litauens durch die Rote Armee im Sommer 1940 enteignet (»nationalisiert«) und geschlossen. Vgl. Nachwort, S. 358ff.
2 Die Holzmans wohnten zu dieser Zeit in Kaunas auf dem» Grünen Berg«, einem vorwiegend von wohlhabenderen Leuten bewohnten Viertel mit vielen Neubauten oberhalb des Zentrums – in der Višinskio-Straße, Nr. 22. Das Haus steht noch.
3 Wilna (Vilnius), die größte Stadt Litauens, war nach dem Ersten Weltkrieg für kurze Zeit Regierungssitz der neuen, aus dem Russischen Reich hervorgegangenen Republik Litauen, wurde dann jedoch 1920 mit seinem Umland von Polen besetzt. Bis 1940 war Kaunas Hauptstadt Litauens. Mitte September 1939, nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf Polen, marschierte die sowjetische Rote Armee in Ostpolen ein und gab Wilna und das Wilna-Gebiet an Litauen zurück, erhielt im Gegenzug dafür das Recht, Truppen auf litauischem Gebiet zu stationieren, und besetzte dann im Sommer 1940 ganz Litauen. Danach wurde wieder Wilna Hauptstadt der Litauischen Sowjetrepublik.
4 Gemeint sind hier natürlich die Soldaten der Roten Armee.
5 Außerhalb des Deutschen Reiches lebende Angehörige deutscher Volksgruppen, die nicht die deutsche, sondern eine andere Staatsangehörigkeit hatten, z.B. die Wolga-Deutschen in Rußland, die Banater Schwaben in Rumänien – im Unterschied zu den» Reichsdeutschen«, die über einen deutschen Paß verfügten.
6 Die von den Nationalsozialisten in ganz Deutschland inszenierten, gegen Juden und jüdische Einrichtungen gerichteten Pogrome vom 9. und 10. November 1938.
7 Nach der Nazi-Nomenklatur war Max Holzman als Kind zweier jüdischer Eltern ein» Volljude«. Helene Holzman war als Kind eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter» halbjüdisch«– wurde aber von den deutschen und litauischen Behörden nicht als» jüdisch«, sondern als» deutsch «wahrgenommen, zumal sie, ebenso wie ihre beiden Töchter, evangelisch getauft war.
8 Die Holzmans erwarben die litauische Staatsangehörigkeit im Jahre 1936.
9 Helene Holzman greift hier ironisch eine Parole auf, die ursprünglich von dem sudetendeutschen Politiker Konrad Henlein während der Sudetenkrise 1938 geprägt und dann als geflügeltes Wort auch auf ähnliche Zusammenhänge (z.B. den Konflikt um Danzig) übertragen wurde.
10 Eine vermutlich aus Rücksicht auf potentielle sowjetische Mitleser allzu freundliche Formulierung: Nach der Besetzung Litauens durch die Rote Armee am 15. Juni 1940 wurde die Buchhandlung Max Holzmans geschlossen. Die Holzmans standen als» Bourgeois «auf den sowjetischen Listen für die Deportationen nach Sibirien, die noch wenige Tage vor dem Einmarsch der Deutschen begannen.
11 Edwin Geist und seine Frau Lyda waren mit den Holzmans gut befreundet. Ihrer Geschichte ist, wie man lesen wird, ein wesentlicher Teil der Aufzeichnungen Helene Holzmans gewidmet. Der einschlägige Eintrag im» Lexikon der Juden in der Musik «von Theo Stengel in Verbindung mit Herbert Gerigk (Berlin 1943, Sp. 88) lautet:»Geist, Edwin Ernst Moritz. (H), *Berlin 31.7.1902, Komp, MSchr, KM – Berlin. «Die Abkürzungen bedeuten: H = Halbjude, Komp = Komponist, MSchr = Musikschriftsteller, KM = Kapellmeister.
12 Der 24. Juni 1941. Am Abend dieses Tages wurde Kaunas von der deutschen Wehrmacht eingenommen.
13 Diese litauischen Partisanen kämpften gegen die Rotarmisten und bildeten zugleich die wichtigste Hilfstruppe der deutschen Besatzungsmacht bei den Mordaktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Schon vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht organisierten die Partisanen erste Pogrome.
14 Zu dem Kreis der» Tolstoianer«, dem dieser Freund wie auch Maries Freund Viktor, der Sohn der Augenärztin Elena Kutorga, angehörte, vgl. auch S. 30.
15 Vgl. Anm. 2.
16 Marie Holzman hatte sich während des» Sowjetjahrs«(Juni 1940 bis Juni 1941) beim» Komsomol«, der kommunistischen Jugendorganisation, engagiert.
17 Im Manuskript irrtümlich:»23. Juni«. Siehe Anm. 12.
18 Die Laisves Aleja (Freiheits-Allee) war die Haupt- und Flanierstraße von Kaunas. Im Haus Nr. 48 hatte sich zuletzt Max Holzmans Buchhandlung» Pribačis «befunden.
19 Wörtlich:»Der litauische Hof«, eine halbstaatliche Handelsgenossenschaft für Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Honig, in deren Büro Marie eine Zeitlang gearbeitet hatte.
20 Hans Multscher (ca. 1400–1467), Maler und Bildhauer. Sein malerisches Hauptwerk ist der Wurzacher» Passionsaltar«(1447) mit der Kreuztragung Christi, heute in Berlin.
21 General Statys Raštikis, vor dem Krieg Generalstabschef der litauischen Armee, war in der im Juli 1941 gebildeten, von der deutschen Besatzungsmacht allerdings weitgehend ignorierten litauischen Regierung Verteidigungsminister.
22 Am Rand der Seite ein wohl nachträglicher Zusatz, der sich nicht zuordnen läßt, möglicherweise etwas, das Moschinskis Helene Holzman damals erzählt hat: In Wilna habe auf deutschen Befehl die Stadtverwaltung verordnet, daß alle Juden einen gelben Stern auf der Brust tragen müssen. Die Kaunaer Stadtverwaltung habe sich gesträubt, eine solche Verordnung zu erlassen. In Wilna wurde dieser Befehl erstmals am 3. Juli 1941 herausgegeben, in Kaunas durch den Stadtkommissar Cramer am 31. Juli 1941.
23 Helene Holzman hat die Stelle für die Zahl der Opfer freigelassen, wohl um sie später nachzutragen. Diesem Massaker, bei dem zahlreiche deutsche Uniformierte zugegen waren und fotografierten, fielen am 27. Juni 1941 etwa sechzig Juden zum Opfer. Der Garagenhof der» Lietukis«-Genossenschaft lag nicht an der Bahnhofstraße, wie Helene Holzman schreibt, sondern am Vytautas-Prospekt, der zum Bahnhof führt. In der Zeit vor der sowjetischen Besetzung Litauens hatte sich hier die Shell-Tankstelle befunden.
24 Am 10. Juli 1941 gaben der litauische Militärkommandeur von Kaunas, Jurgis Bobelis, und der Bürgermeister von Kaunas, Kazys Palčiauskas, den Erlaß heraus, daß alle Juden spätestens bis zum 15. August in das Ghetto Vilijampole umzuziehen hätten.
25 In Kaunas lebten zum Zeitpunkt des deutschen Einmarschs etwa 40000 Juden. Etwa 15 Prozent der ca. 30000 Personen, die noch im Juni 1941 von den Sowjets aus Litauen nach Sibirien deportiert wurden, waren Juden. Anfangs lebten im Ghetto Vilijampole etwa 30000 Menschen.
26 Vgl. Anm. 19.
27 Viktor Kutorga.
28 «Wehrlos «im Sinne von» waffenlos«,»unbewaffnet«.
29 Vgl. Anm. 5 über den Begriff» Volksdeutsche«.
30 Fritz Jordan, Hauptsturmführer der SA, Referent für Judenfragen bei der Zivilverwaltung in Kaunas.
31 Noch vor der Verordnung vom 31. Juli 1941, der zufolge alle Juden vorn und auf dem Rücken einen gelben Stern tragen mußten, hatte der deutsche Stadtkommissar von Kaunas, Hans Cramer, am 28. Juli 1941 bestimmt:»Der jüdischen Bevölkerung wird das Betreten der Gehsteige untersagt. Die Juden haben den rechtsseitigen Rand der Fahrstraße einzuhalten und hintereinander zu gehen.«(»Hidden History of the Kovno Ghetto«, S. 49)
32 Als letzter Termin für den Umzug ins Ghetto war der 15. August 1941 festgesetzt worden.
33 Robert Stender, erster Geiger an der Kaunaer Oper. Er wurde bei der sogenannten» Intellektuellen-Aktion«(vgl. S. 66f.) ermordet.
34 Wahrscheinlich Franz Vocelka, von dem noch die Rede sein wird. Er hat seine Frau später wieder aus dem Ghetto geholt.
35 Helene Holzman hat die folgenden beiden Briefe Maries in ihren Aufzeichnungen abgeschrieben. Die Originale sind nicht erhalten.
36 Über den Pelikan hieß es schon in der Antike, er würde sich die Brust aufreißen, um mit dem eigenen Blut seine Kinder zu ernähren.
37 Gretes und Ludmillas Freundin Bella Feigelowitsch, genannt» Beka«, war mit ihrer Familie am Ende des Sowjetjahres nach Sibirien deportiert worden.
38 Zusatz am Seitenrand: Zur Flucht brauchten wir vor allem Geld. Wir verkauften Bettwäsche, Bücher, Kleidungsstücke, Eßgeschirr sehr billig. Es hatte sowieso keinen Wert mehr für uns.
39 Im Sinne von» einschüchtern«.
40 Im Sinne von» prahlten«.
41 Russische Zigaretten mit einem langen Mundstück aus Pappe.
42 Es gab einen relativ humanen deutschen Offizier, Oberst Erich Just, der als Beauftragter des Wehrmachtbefehlshabers Ostland im Baltikum war. Möglicherweise ist aber doch Heinz Jost gemeint, ein allerdings nicht durch seine Milde bekannt gewordener Generalmajor der Polizei. Er war ab März 1942 mit der Wahrung der Geschäfte des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD und des Chefs der Einsatzgruppe A beauftragt. Avraham Tory (S. 251) berichtet, der Ältestenrat des Kaunaer Ghettos habe sich bemüht, mit Jost in Kontakt zu kommen, da er vor dem Krieg mit einigen Juden, die nun im Ghetto lebten, befreundet gewesen sei. Offenbar hoffte man, in ihm einen Fürsprecher zu finden.
43 Vgl. Anm. 31, S. 44.
44 Die sogenannte» Intellektuellen-Aktion«. Die Erschießungen wurden im IV. Fort ausgeführt. Die Zahl 534 wird in vielen Berichten genannt. Nach dem sog.»Jäger-Bericht «vom 1. Dezember 1941 fielen dieser Aktion sogar 711 Juden zum Opfer.
45 Marijonas Senkus
46 Da es im kyrillischen Alphabet kein» H «gibt, würde man den Namen» Holzman «in russischer Umschrift mit» G «oder» Ch«(kyrillisch Γ oder Χ) beginnen lassen.
47 Ghettos, die länger Bestand hatten, gab es nach den verfügbaren historischen Untersuchungen auf litauischem Gebiet nur in drei Städten, Kaunas, Wilna und Schaulen (šiauliai). Zu Beginn der deutschen Besetzung wurden allerdings für kurze Zeit auch in zahlreichen kleineren Orten Ghettos errichtet.
48 Der Ältestenrat wurde auf deutschen Befehl als Instrument der inneren Selbstverwaltung am 4. August 1941 gebildet. Zum Vorsitzenden wählten die Vertreter der jüdischen Gemeinde von Kaunas den angesehenen Arzt Elchanan Elkes. Dem Ältestenrat gehörte auch Avraham Tory (Golub) an, dessen Tagebuch,»Surviving the Holocaust. The Kovno Ghetto Diary«, eine besonders aufschlußreiche Quelle für die Geschichte des Kaunaer Ghettos ist.
49 Sie wurden auch» Jordan-Scheine «genannt, nach dem deutschen Referenten für Judenfragen in Kaunas, Fritz Jordan, der sie einführte.
50 Quartier, Stadtviertel.
51 Wahrscheinlich wurden an diesem Tag, dem 26. September 1941, 1200 Menschen ermordet. (Vgl.»Hidden History«, S. 243). Möglich, daß Helene Holzman diese Aktion und die von ihr anschließend geschilderte Liquidierung des Kleinen Ghettos am 4. Oktober, bei der etwa 1800 Menschen (Helene Holzman nennt auf S. 91 die Zahl 2000) ermordet wurden, zusammengenommen hat. Der» Jäger-Bericht «beziffert die Zahl der Opfer bei diesen beiden Aktionen mit 1608 und 1845.
52 Im Text: SA-Bannerführer.
53 Hier verwirrt sich die Chronologie der Ereignisse. Das vorgetäuschte Attentat auf den deutschen Ghetto-Kommandanten Willy Koslowski diente als Vorwand für die Mordaktion vom 26. September 1941, von der Helene Holzman weiter oben (S. 88f.) schon berichtet hat. Vgl. dazu Tory, S. 60.
54 Gemeint ist das Stereotyp des knollennasigen, unter dicken Augenbrauen und schwarzem Kraushaar verschlagen hervorblickenden» Juden«, das vor allem vom» Stürmer«, dem von Julius Streicher herausgegebenen antisemitischen» Deutschen Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit«, aber auch von anderen Zeitungen der Nazizeit in unzähligen Karikaturen verbreitet wurde.
55 Vgl. hierzu die im Anhang, S. 348, zitierte Tagebucheintragung Elena Kutorgas vom 31. Oktober 1941.
56 Helene Holzman benutzt hier ausnahmsweise einmal den von der deutschen Besatzungsmacht verwendeten Namen für Kaunas.
57 Das im August 1941 gegründete Kollegium der Generalräte war das oberste Organ der litauischen» Selbstverwaltung «während der deutschen Besetzung. Vorsitzender war Petras Kubiliunas. Der Generalrat, dem sich Helene Holzman anvertraute, war Vladas Jurgutis.
58 Der nördlich der Memel (russisch: Njemen – litauisch: Nemunas) und des Rus gelegene Teil Ostpreußens kam mit der größten Stadt Memel (litauisch: Klaipeda) nach dem Ersten Weltkrieg unter französische Mandatsverwaltung und wurde 1923 von Litauen annektiert. Im März 1939 erzwang das Deutsche Reich die Rückgabe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Memelgebiet der Litauischen Sowjetrepublik angegliedert und gehört heute zu Litauen.