Zum Gedenken an
Frederica Campbell MacFarlane,
die von mir ging, als der Tag anbrach,
am 25. Januar 1919,
eine treue Freundin,
eine außergewöhnliche Persönlichkeit,
eine treue und tapfere Seele.
„Wer in jungen Jahren so Großartiges vollbracht hat, wird für uns immer jung bleiben.“
Sheard
Inhalt
Cover
Titel
Wochen der Ungewißheit
Eine Kriegshochzeit
Gertrudes Traum
Aufruhr in der Kirche
Liebesaffären
Mondays Vorahnung
Nun denn, gute Nacht
Rettung in letzter Minute
Shirley nimmt Abschied
Der Heiratsantrag.
Warten
Schwarzer Sonntag
Verwundet und vermißt
Gezeitenwechsel
Mrs. Matilda Pitman
Nachricht von Jem
Sieg!
Susans Flitterwochen
Rilla-meine-Rilla
Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery
Weitere Infos
Impressum
Wochen der Ungewißheit
Rilla las ihren ersten Liebesbrief im Regenbogental, in ihrem geheimen Schlupfwinkel unter den Tannen. Nichts ist für ein junges Mädchen so aufregend wie der erste Liebesbrief, auch wenn er für ältere Leute noch so kitschig klingen mag. Nachdem Kenneths Regiment Kingsport verlassen hatte, folgten zwei Wochen zermürbender Ungewißheit und Sorge, und wenn die Gläubigen Sonntag abends in der Kirche sangen „Herr, erhöre unser Fleh’n, hilf den Notleidenden auf See“, dann versagte Rillas Stimme, weil sich ihr bei diesen Worten das schreckliche Bild von einem versinkenden Schiff aufdrängte, das erbarmungslos unter den Schreien und dem Todeskampf der Männer von den Wellen verschlungen wurde.
Dann kam die Nachricht, daß Kenneths Regiment unversehrt in England angekommen sei. Und jetzt, endlich, hielt Rilla seinen Brief in der Hand. Der Anfang des Briefes machte Rilla überaus glücklich, und der letzte Abschnitt klang so wunderbar und zauberhaft, daß sie vor Freude ganz rot wurde. Der Mittelteil betraf die letzten Neuigkeiten und war so sachlich und unbeschwert geschrieben, daß er genausogut jeder anderen Person hätte gelten können. Doch der Anfang und das Ende des Briefes waren für Rilla Grund genug, ihn unter ihr Kopfkissen zu legen und wochenlang darauf zu schlafen. Und wenn sie nachts aufwachte, dann glitten ihre Finger unter das Kissen und tasteten danach. Die anderen Mädchen konnten ihr richtig leid tun. Die Briefe, die sie von ihren Verehrern bekamen, waren bestimmt nicht halb so wunderbar und aufregend. Kenneth war nicht umsonst der Sohn eines berühmten Schriftstellers. In seinem eigenen Stil vermochte er die Dinge in wenigen scharfen und treffenden Worten auszudrücken, in Worten, die weit über ihre Bedeutung hinauszugehen schienen. Was er schrieb, konnte man immer und immer wieder lesen, es wirkte nie abgedroschen, langweilig oder dumm. Als Rilla sich auf den Heimweg machte, hatte sie das Gefühl zu fliegen.
Aber solche erhebenden Augenblicke waren in diesem Herbst die Ausnahme. Das heißt, es gab einen Tag im September, als nämlich die großartige Nachricht kam, daß die Alliierten im Westen einen entscheidenden Sieg errungen hatten. Susan lief gleich hinaus, um die Fahne zu hissen, das erstemal seit dem Durchbruch der russischen Front und das letztemal für viele trostlose Monate.
„Das ist bestimmt der Anfang des Großangriffs, liebe Frau Doktor!“ rief Susan ganz aufgeregt. „Bald werden die Hunnen am Ende sein. Und das bedeutet, daß unsere Jungen bis Weihnachten wieder zu Hause sind, hurra!“
Im selben Augenblick, als sie hurra schrie, schämte sich Susan und entschuldigte sich kleinlaut für ihren kindischen Gefühlsausbruch. „Ach wissen Sie, liebe Frau Doktor, diese gute Nachricht ist mir ganz einfach zu Kopf gestiegen nach diesem schrecklichen Sommer mit der Niederlage der Russen und dem Rückschlag von Gallipoli.“
„Gute Nachricht!“ empörte sich Miss Oliver. „Ob wohl die Frauen, deren Männer dafür sterben mußten, das auch eine gute Nachricht nennen? Bloß, weil unsere eigenen Männer nicht an dieser Stelle der Front stehen, freuen wir uns und tun so, als ob der Sieg kein Menschenleben gekostet hätte.“
„Liebe Miss Oliver, so dürfen Sie das aber nicht sehen“, sagte Susan tadelnd. „Erstens haben wir in letzter Zeit doch wirklich kaum Anlaß zur Freude gehabt, und zweitens können wir nichts mehr daran ändern, daß Männer dabei umgekommen sind. Sie dürfen den Kopf nicht so hängenlassen. Cousine Sophia ist genauso. Als sie von der Nachricht hörte, da sagte sie: ‚Das ist doch bloß wieder so ein Wolkenloch. Diese Woche schöpfen wir Mut, und nächste Woche lassen wir ihn wieder sinken.‘ – ‚Hör mal, liebe Sophia Crawford‘, habe ich da gesagt – von ihr lasse ich mir nämlich nichts gefallen, liebe Frau Doktor —, selbst der liebe Gott kann nicht zwei Hügel erschaffen ohne eine Mulde dazwischen, sagt man, also warum sollten wir nicht das Gute sehen, wenn wir schon mal oben sind?‘ Aber Cousine Sophia schimpfte weiter. ‚Die Gallipoli-Expedition war ein Reinfall, der Großherzog Nicholas ist abgesetzt, und jeder weiß, daß der Zar von Rußland auf der Seite der Deutschen steht und die Alliierten keine Munition haben und Bulgarien nichts von uns wissen will. Und das Ende ist noch nicht in Sicht, denn England und Frankreich müssen für ihre Todsünden bestraft werden, bis sie in Sack und Asche büßen.‘ – ‚Ich denke‘, sagte ich, ‚daß die in Uniform und im Schlamm der Schützengräben Buße tun werden und daß die Hunnen auch ein paar Sünden zu bereuen haben.‘ – ‚Die sind doch für den Allmächtigen bloß Instrumente, mit denen er die Kornkammer reinigt‘, sagte Sophia. Das hat mich wütend gemacht, liebe Frau Doktor, und ich habe zu ihr gesagt, ich glaube nie im Leben, daß der Allmächtige solche schmutzigen Instrumente in die Hand nimmt, egal für welchen Zweck, und ich fände es nicht anständig von ihr, mit den Worten der Heiligen Schrift genauso schludrig umzugehen wie mit ihrer Umgangssprache. Sie wäre doch schließlich kein Pfarrer oder so was, habe ich zu ihr gesagt. Der habe ich es vorläufig gezeigt. Bei Cousine Sophia ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Ihre Nichte, Mrs. Dean Crawford aus Overharbour, ist da ganz anders. Sie wissen ja, daß die Dean Crawfords schon fünf Buben haben, und das Baby, das jetzt gekommen ist, ist glatt wieder ein Junge. Die ganze Verwandtschaft und Dean Crawford sowieso waren zutiefst enttäuscht, weil sie sich alle ein Mädchen in den Kopf gesetzt hatten. Aber Mrs. Dean lachte nur und sagte: ‚Egal, wo ich diesen Sommer hingegangen bin, ständig bin ich auf einen Aushang gestoßen mit den Worten Männer gesucht. Glaubt ihr wirklich, ich könnte unter solchen Umständen ein Mädchen auf die Welt bringen?‘ Das nenne ich aber Humor, liebe Frau Doktor. Aber Cousine Sophia würde dazu sagen, das Kind wäre bloß wieder neues Kanonenfutter.“
Cousine Sophia konnte in diesem trüben Herbst ihrem Pessimismus so richtig freien Lauf lassen, und selbst Susan als unverbesserlicher Optimistin fiel es schwer, die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen. Als Bulgarien sich mit Deutschland zusammenschloß, bemerkte Susan bloß verächtlich: „Noch ein Land, das unbedingt Prügel einstecken will.“ Aber daß die Griechen sich auf einen Kampf einließen, das war mehr, als sie mit ihrer Philosophie verkraften konnte.
„Konstantin von Griechenland hat eine deutsche Frau, liebe Frau Doktor, und diese Tatsache macht jede Hoffnung zunichte. Wer hätte je gedacht, daß ich mir mal Gedanken darum mache, was für eine Frau Konstantin von Griechenland hat! Der arme Kerl steht doch unter ihrer Fuchtel, und das ist schlecht für einen Mann. Ich bin eine alte Jungfer, und eine alte Jungfer muß unabhängig sein, wenn sie nicht will, daß man sie fertigmacht. Wenn ich aber geheiratet hätte, liebe Frau Doktor, dann wäre aus mir eine demütige und bescheidene Frau geworden. In meinen Augen ist diese Sophia von Griechenland ein Drachen.“
Susan war wütend, als die Nachricht kam, daß Venizelos eine Niederlage hatte einstecken müssen.
„Ich könnte diesen Konstantin versohlen und ihm anschließend das Fell über die Ohren ziehen, jawohl!“ wetterte sie.
„Susan, ich muß mich doch sehr über dich wundern“, sagte Gilbert und schnitt eine Grimasse. „Was sind denn das für Sitten? Ihm das Fell über die Ohren zu ziehen ist ja in Ordnung, aber doch nicht versohlen!“
„Wenn er früher öfter mal eine Tracht Prügel bekommen hätte, dann wäre er jetzt vernünftiger“, verteidigte sich Susan. „Aber Prinzen werden wahrscheinlich nie versohlt, zu dumm aber auch. Wie ich hier lese, haben die Alliierten ihm ein Ultimatum gestellt. Na, da gehört aber mehr dazu als ein Ultimatum, wenn die einer Schlange wie Konstantin beikommen wollen. Vielleicht kommt er ja durch die Blockade der Alliierten zur Vernunft. Aber das wird wohl eine Weile dauern bis dahin, und was soll inzwischen aus dem armen Serbien werden?“
Sie sahen nur allzu deutlich, was aus Serbien wurde, und in dieser Zeit war Susan unausstehlich. Sie ließ ihre Wut an allem und jedem aus, mit Ausnahme von Kitchener, und schimpfte wie ein Rohrspatz über den armen Präsidenten Wilson.
„Wenn der seine Pflicht getan und bei dem Krieg schon viel früher mitgemacht hätte, dann hätten wir jetzt nicht diesen Schlamassel in Serbien“, erklärte sie.
„Das wäre eine viel zu ernste Sache, ein so großes Land wie die Vereinigten Staaten mit einer so gemischten Bevölkerung in den Krieg zu treiben, Susan“, sagte Gilbert, der hin und wieder den Präsidenten in Schutz nahm, aber nicht etwa, weil er fand, Wilson hätte das verdient, sondern weil er Susan ganz einfach gern neckte.
„Kann sein, lieber Doktor, kann sein! Aber das erinnert mich an diese alte Geschichte von dem Mädchen, das seiner Großmutter erzählt, daß es heiraten will. ‚Aber verheiratet zu sein ist eine ernste Sache‘, sagte die alte Dame. – ‚Ja, aber es ist noch ernster, nicht verheiratet zu sein‘, sagte das Mädchen. Das kann ich bezeugen, aus eigener Erfahrung, lieber Doktor. Und deswegen denke ich, es ist für die Yankees schlimmer, daß sie sich aus dem Krieg herausgehalten haben, als wenn sie mitgemacht hätten. Wie auch immer, ich weiß zwar nicht viel über sie, aber ich glaube, daß die schon noch was in Bewegung setzen, Woodrow Wilson hin und Woodrow Wilson her. Die werden schon noch merken, daß dieser Krieg nichts mit Fernunterricht zu tun hat. Dann“, rief Susan und fuchtelte dabei energisch mit der Pfanne in der einen und der Schöpfkelle in der anderen Hand herum, ‚dann werden die nicht mehr zu stolz sein zum Kämpfen.“
Es war ein fahler, stürmischer Oktobertag, als Carl Meredith fortging. Er hatte sich an seinem achtzehnten Geburtstag in die Liste der Freiwilligen eingetragen. John Meredith verabschiedete sich von ihm mit gefaßtem Blick. Jetzt waren seine beiden Jungen fort – nur der kleine Bruce blieb ihm noch. Er liebte Bruce und Bruces Mutter von ganzem Herzen; aber Jerry und Carl waren die Söhne seiner Braut aus jungen Jahren, und Carl war das einzige von seinen Kindern, das genau dieselben Augen hatte wie Cecilia. Wie Carl so dastand in seiner Uniform und ihn so liebevoll aus diesen Augen anschaute, da mußte der Pfarrer plötzlich daran denken, wie er Carl einmal beinahe verhauen hätte wegen seines Streichs mit dem Aal. Damals war ihm zum erstenmal aufgefallen, wie ähnlich Carl seiner Mutter war. Jetzt bemerkte er es wieder. Würde er die Augen seiner verstorbenen Frau, die ihn aus dem Gesicht seines Sohnes anschauten, jemals wiedersehen? Was für ein hübscher, stattlicher junger Mann er war! Es war schwer, ihn gehen zu lassen. In seiner Vorstellung sah John Meredith ein aufgewühltes Feld, übersät mit den Leichen der „wehrfähigen Männer zwischen achtzehn und fünfundvierzig“. Dabei war es noch gar nicht lange her, daß Carl ein kleiner Junge gewesen war, der im Regenbogental Käfer fing, Eidechsen mit ins Bett nahm und ganz Glen in Aufruhr versetzte, weil er Frösche in die Sonntagsschule mitbrachte. Irgendwie war es nicht richtig, daß er jetzt plötzlich ein wehrfähiger Mann in Uniform sein sollte. Und doch hatte John Meredith mit keinem Wort versucht, ihn umzustimmen, als Carl ihm sagte, daß er gehen müsse.
Rilla litt sehr darunter, daß Carl ging. Sie waren immer so gute Freunde und Spielkameraden gewesen. Er war nur wenig älter als sie, und sie hatten als Kinder im Regenbogental miteinander gespielt. Sie mußte an all ihre gemeinsam ausgeheckten Streiche und Dummheiten denken, während sie langsam nach Hause ging. Zwischen den vorüberjagenden Wolken blitzte unheimlich der Vollmond auf, die Telefondrähte summten im Wind, und die großen Ähren der verwelkten Goldrute in den Zaunwinkeln verbeugten sich stürmisch vor ihr wie alte Hexen, die ihr Verwünschungen zuriefen. An solchen Abenden kam Carl früher nach Ingleside herüber und pfiff draußen am Tor nach ihr.
„Komm, wir machen einen Mondbummel, Rilla“, sagte er dann, und schon zogen sie zusammen los zum Regenbogental. Rilla hatte sich nie vor seinen Käfern und Wanzen gefürchtet; von Schlangen allerdings wollte sie nichts wissen. Sie konnten über fast alles miteinander reden und wurden in der Schule deshalb schon geneckt.
Eines Abends – sie waren ungefähr zehn Jahre alt – trafen sie sich bei der Quelle im Regenbogental und gelobten einander feierlich, daß sie einander niemals heiraten würden. An jenem Tag hatte nämlich Alice Clow in der Schule ihre Namen auf ihrer Tafel „ausgekreuzt“, und dabei kam heraus, daß sie „einander heiraten“ würden. Die Vorstellung gefiel ihnen überhaupt nicht, und so kam es zu dem Eid im Regenbogental. Besser, man sorgte rechtzeitig vor. Rilla mußte lachen, als ihr das wieder einfiel, dann seufzte sie. Gerade heute stand in einem Extrablatt aus London die erfreuliche Mitteilung, daß dies „der finsterste Tag seit dem Ausbruch des Krieges“ sei. Finsterer hätte er wirklich kaum sein können.
Wenn Rilla wenigstens etwas anderes hätte tun können als warten und sich zu Hause nützlich machen! Es verging kein Tag, an dem nicht irgendein Junge aus Glen fortging. Wenn sie doch ein Junge sein könnte, dann würde sie in Uniform an Carls Seite an die Westfront eilen! Schon als Jem ging, hatte sie sich das im Überschwang der Gefühle gewünscht, aber ohne es wirklich zu wollen. Jetzt wollte sie es. Manchmal war es einfach unerträglich, bequem und sicher zu Hause zu sitzen und abzuwarten.
Der Mond trat triumphierend hinter einer besonders dunklen Wolke hervor, und Silberglanz und Schatten jagten einander wie Wellen am Himmel über Glen. Rilla mußte daran denken, wie sie einmal als Kind an einem Mondscheinabend zu ihrer Mutter gesagt hatte: „Der Mond sieht aus wie ein ganz, ganz trauriges Gesicht.“ Genauso sah er jetzt aus – ein gequältes, gramerfülltes Gesicht, das auf lauter schreckliche Dinge herabsah. Was er wohl an der Westfront sah? Im zerstörten Serbien? Im Kugelhagel von Gallipoli?
„Ich habe es satt“, hatte Miss Oliver am selben Tag voller Ungeduld gesagt. „Es ist so entsetzlich nervenaufreibend, wenn täglich neue Schreckensmeldungen kommen oder wir damit rechnen müssen. Nein, sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, Mrs. Blythe. Ich habe heute gar nichts Heldenhaftes an mir. Ich habe einfach keinen Mut mehr. Ich wünschte, England hätte Belgien seinem Schicksal überlassen – ich wünschte, Kanada hätte nie einen Mann losgeschickt – ich wünschte, wir hätten unsere Jungen an unseren Schürzenbändern festgebunden und keinen einzigen fortgelassen. Oh, bestimmt schäme ich mich in einer halben Stunde dafür, aber jetzt meine ich jedes Wort ernst. Werden denn die Alliierten niemals zuschlagen?“
„Geduld ist wie ein müder Gaul, aber er trottet immer noch weiter“, sagte Susan.
„Während die Schlachtrösser des Armageddon herbeitosen und über unsere Herzen hinwegtrampeln“ ‚erwiderte Miss Oliver. „Serbien wird erstickt, und die Alliierten an der Westfront scheinen zu nichts anderem fähig zu sein, als jeden Tag ein paar Meter Stoff für diese elenden Grabenmäntel zu kaufen. Susan, sag mir, hast du nie das Gefühl, schreien zu müssen oder zu fluchen oder etwas zu zertrümmern, einfach weil du diese Tortur nicht mehr ertragen kannst?“
„Geflucht habe ich noch nie, liebe Miss Oliver, aber ich gebe zu“, sagte Susan und holte tief Luft vor ihrem Geständnis, „daß es vorgekommen ist, daß ich zu meiner Erleichterung die Tür zugeknallt habe.“
„Aber meinst du nicht, daß das genauso ist wie fluchen, Susan? Was ist denn der Unterschied, ob ich nun eine Tür mit aller Gewalt zuschlage oder ob ich sage ‚verda‘ …,“
„Liebe Miss Oliver“, fiel Susan ihr ins Wort, ehe diese womöglich völlig aus der Fassung geriet, „Sie sind einfach übermüdet und abgespannt. Kein Wunder, wenn man tagtäglich so eine wilde Horde Kinder unterrichten muß und dann zu Hause die schlimmen Kriegsnachrichten erfährt. So, und jetzt gehen Sie nach oben und ruhen sich aus, und ich bringe Ihnen eine Tasse heißen Tee und eine Scheibe Toast, und dann werden Ihnen das Türenknallen und das Fluchen ganz schnell vergehen.“
„Susan, du bist wirklich eine gute Seele – eine richtige Perle! Trotzdem, Susan, es wäre so eine Erleichterung für mich, wenn ich nur ein einziges Mal ganz leise sagen könnte ‚verda…‘“
„Und eine heiße Wärmflasche für die Füße kriegen Sie auch noch“, fuhr Susan entschlossen dazwischen, „und außerdem wäre es mit Sicherheit keine Erleichterung für Sie, wenn Sie das Wort, das Ihnen auf der Zunge liegt, aussprechen, Miss Oliver, darauf können Sie sich verlassen.“
„Na gut, dann werde ich es eben erst mal mit der heißen Wärmflasche versuchen“, sagte Miss Oliver und entschwand zu Susans großer Erleichterung reumütig nach oben. Susan schüttelte bedächtig den Kopf und füllte die Wärmflasche auf. Der Krieg machte es einem aber auch wirklich schwer, sich noch normal zu verhalten. Viel hätte nicht gefehlt, und Miss Oliver hätte geflucht.
„Diesen Hitzkopf muß man lindern“, sagte sich Susan. „und wenn die Wärmflasche nichts bewirkt, dann werde ich es mit einem Senfpflaster versuchen.“
Gertrude beruhigte sich und sammelte wieder Kraft. Lord Kitchener begab sich nach Griechenland, was Susan zu der Vorhersage veranlaßte, Konstantin werde bald einen Sinneswandel erleben. Lloyd George drangsalierte die Alliierten in bezug auf Kriegsausrüstung und Waffen, und Susan sagte, von diesem Lloyd George würde man sicher noch öfter hören. Der tapfere Anzacs zog sich aus Gallipoli zurück, und Susan billigte diesen Schritt nur mit Zurückhaltung. Die Belagerung von Kut El-Amara begann, und Susan brütete über Landkarten von Mesopotamien und schimpfte über die Türken. Henry Ford machte sich nach Europa auf, und Susan wetterte über ihn, daß die Fetzen flogen. Sir John French wurde von Sir Douglas Haig abgelöst, und Susan meinte zweifelnd, das zeuge aber von einer armseligen Politik, wenn während einer Krise die Regierung wechselt, „obwohl ich zugeben muß, daß Haig ein guter Name ist und French so einen ausländischen Klang hatte, da könnt ihr sagen, was ihr wollt“. Ob Könige, Läufer oder Bauern, Susan entging nicht ein Zug auf dem großen Schachbrett. Dabei hatte sie sich früher für nichts anderes interessiert als die „Notizen aus Glen St. Mary“.
„Es gab Zeiten“, seufzte sie, „da kümmerte ich mich überhaupt nicht darum, was außerhalb von Prince Edward Island passierte. Und jetzt kann kein König aus Rußland oder China Zahnschmerzen haben, ohne daß ich mir um ihn Sorgen mache. Das mag zwar den Horizont erweitern, wie der Doktor sagt, und gut für den Verstand sein, aber es ist schlecht für die Seele, weil sie mitleiden muß.“
Zu Weihnachten deckte Susan diesmal keine leeren Sitzplätze am Festtagstisch. Zwei leere Stühle waren selbst für sie zuviel, nachdem sie im September noch fest daran geglaubt hatte, daß es keinen geben würde.
„Das ist das erstemal, daß Walter zu Weihnachten nicht zu Hause ist“, schrieb Rilla an diesem Abend in ihr Tagebuch. „Jem fuhr zu Weihnachten immer hinüber nach Avonlea, aber Walter nie. Heute kam ein Brief von Ken und einer von Walter. Sie sind noch in England, rechnen aber damit, daß sie bald in die Schützengräben kommen. Und dann – aber auch das werden wir irgendwie überstehen. Das merkwürdigste von allem, was ich seit 1914 erlebt habe, ist die Feststellung, daß wir uns mit Dingen abfinden können, von denen wir es nie vermutet hätten, daß wir wie selbstverständlich weiterleben können. Ich weiß, daß Jem und Jerry in den Schützengräben sind, daß Ken und Walter auch bald dort sein werden, daß es mir das Herz brechen wird, falls einer von ihnen nicht zurückkommt – und doch mache ich weiter und arbeite und plane; ja, es kommt sogar vor, daß ich das Leben für einen Augenblick genieße. Manchmal, wenn wir das alles für einen kurzen Moment vergessen, sind wir richtig fröhlich, aber dann fällt uns plötzlich alles wieder ein, und das ist schlimmer, als wenn man die ganze Zeit über daran gedacht hätte.
Heute war ein dunkler, bewölkter Tag, und heute abend stürmt es fürchterlich – wie Gertrude sagt: das richtige Wetter für einen Schriftsteller, um sich einen schrecklichen Mord oder eine dramatische Liebesgeschichte auszudenken. Die Regentropfen, die langsam an den Fensterscheiben herunterlaufen, sehen aus wie Tränen auf einem Gesicht, und der Wind heult dazu durch das Ahornwäldchen.
Dieser Weihnachtstag hatte überhaupt nichts Erfreuliches. Nan hatte Zahnschmerzen, und Susan hatte rote Augen und schnitt, um das zu vertuschen, ganz fürchterliche Grimassen. Jims war den ganzen Tag schlimm erkältet, und ich habe Angst, daß er Krupp bekommt. Den hat er seit Oktober schon zweimal gehabt. Das erstemal habe ich gezittert vor Angst, weil Vater und Mutter fort waren – mir kommt es sowieso so vor, als ob Vater immer ausgerechnet dann aus dem Haus ist, wenn einer in der Familie krank wird. Aber Susan hat kühlen Kopf bewahrt und hat genau gewußt, was zu tun ist, und bis zum nächsten Morgen ging es Jims wieder gut. Dieses Kind ist mal der Engel und mal der Teufel in Person. Er ist jetzt ein Jahr und vier Monate alt, er tapst überall herum und plappert auch schon. Wie niedlich das klingt, wenn er mich ‚Willa-will‘ ruft! Ich muß dann immer an diesen schrecklichen, lächerlichen, wunderbaren Abend denken, als Ken kam, um mir Lebewohl zu sagen, und ich so wütend und gleichzeitig so glücklich war. Jims hat eine rosige Haut, hellblondes Haar und große Augen und Löckchen, und immer wieder entdecke ich ein neues Grübchen an ihm. Ich kann es gar nicht fassen, daß er derselbe ist wie dieser magere, gelbhäutige, häßliche Balg, den ich damals in der Suppenschüssel nach Hause brachte. Von Jim Anderson hat man nie etwas gehört. Wenn er nicht zurückkommt, dann behalte ich Jims. Alle hier beten ihn an und verwöhnen ihn – oder würden ihn zumindest verwöhnen, wenn nicht Morgan und ich dem so unbarmherzig im Weg stehen würden. Susan sagt, Jims sei das schlaueste Kind, das ihr je begegnet sei, und er stecke bestimmt mit dem Leibhaftigen unter einer Decke, aber das sagt sie bloß, weil Jims mal den armen Doc oben aus dem Fenster geworfen hat. Auf dem Weg nach unten verwandelte Doc sich in Mr. Hyde und landete fauchend und fluchend in einem Johannisbeerstrauch. Ich versuchte, sein Katerherz mit einem Schälchen Milch zu besänftigen, aber er wollte davon nichts wissen und blieb den ganzen Tag lang Mr. Hyde. Jims’ neueste Heldentat ist, daß er das Kissen auf dem großen Sessel im Empfangszimmer mit Sirup vollgeschmiert hat. Bevor es jemand bemerkte, kam Mrs. Fred Clow in irgendwelchen Rotkreuz-Angelegenheiten zu Besuch und setzte sich drauf. Ihr neues Seidenkleid war ruiniert. Daß sie sich darüber geärgert hat, kann ihr keiner übelnehmen. Aber sie mußte gleich aus der Haut fahren und ganz gemeine Sachen sagen. Das ging so weit, daß sie behauptete, ich würde aus Jims einen ‚verzogenen Fratz‘ machen, und da bin ich fast auch übergekocht. Aber ich riß mich am Riemen und wartete, bis sie davongewatschelt war. Dann explodierte ich.
‚Dieses fette Ungeheuer!‘ schrie ich, und das tat richtig gut!
‚Sie hat drei Söhne an der Front‘, sagte Mutter vorwurfsvoll.
‚So, und deswegen muß man ihr alles durchgehen lassen!‘ schimpfte ich. Aber dann schämte ich mich. Es stimmt ja, daß alle ihre Söhne gegangen sind, und sie war dabei sehr standhaft und tapfer. Und dem Roten Kreuz ist sie eine mächtige Stütze. So viele Heldinnen gibt es in dieser Zeit – die kann man sich nur schwer alle merken. Jedenfalls war das ihr zweites neues Seidenkleid in einem Jahr, und das, wo doch alle versuchen zu sparen und zu dienen. Zumindest sollte das jeder tun.
Neulich mußte ich wohl oder übel meinen grünen Samthut wieder ausgraben, jetzt wo es Winter ist. Dabei hatte ich mich so lange wie möglich an meinen alten Matrosenhut geklammert. Wie ich diesen grünen Samthut hasse! Er ist so fein und fällt richtig auf. Ich verstehe gar nicht, wie der mir jemals gefallen konnte. Aber ich habe fest versprochen, ihn zu tragen, also trage ich ihn auch.
Heute morgen sind Shirley und ich zum Bahnhof gegangen, um dem kleinen Monday einen Weihnachtsschmaus zu bringen. Monday wartet und wacht dort immer noch und ist immer noch voller Hoffnung und Zuversicht. Manchmal lungert er am Bahnhof herum und unterhält sich mit den Leuten, ansonsten hockt er vor seiner Hundehütte und behält ständig die Bahngleise im Auge. Inzwischen versuchen wir schon gar nicht mehr, ihn wegzulocken; wir wissen, es hat keinen Sinn. Erst wenn Jem zurückkehrt, dann wird Monday mit ihm nach Hause kommen; und wenn Jem nie mehr zurückkehrt, dann wird Monday dort so lange auf ihn warten, wie sein treues Hundeherz schlägt.
Gestern abend war Fred Arnold hier. Er ist im November achtzehn geworden und will sich zum Kriegsdienst melden, sobald seine Mutter die Operation hinter sich hat. Er ist in letzter Zeit sehr häufig hier gewesen. Das beunruhigt mich, obwohl ich ihn ganz gern habe. Womöglich denkt er noch, er bedeutet mir etwas. Von Ken habe ich ihm nichts erzählt – außerdem, was gäbe es da schon zu erzählen? Und doch widerstrebt es mir, mich kühl und distanziert zu verhalten, wenn er bald fortgeht. Komisch ist das. Dabei dachte ich immer, wie lustig es sein müsse, Dutzende von Verehrern zu haben, und jetzt mache ich mir solche Sorgen, weil mir zwei schon zuviel sind.
Ich lerne jetzt kochen. Susan bringt es mir bei. Vor langer Zeit habe ich es schon mal versucht – nein, das stimmt nicht, Susan hat versucht es mir beizubringen, und das ist etwas ganz anderes. Irgendwie ist mir nie etwas gelungen, und ich habe immer gleich den Mut verloren. Aber jetzt, wo die Jungen weggegangen sind, möchte ich wenigstens in der Lage sein, einen Kuchen für sie zu backen, also habe ich noch mal von vorn angefangen, und diesmal klappt es überraschend gut. Susan sagt, das käme bloß daher, daß ich dabei den Mund halte, und Vater sagt, daß mein Unterbewußtsein jetzt wohl so lernbegierig sei, und ich muß sagen, sie haben beide recht. Immerhin kann ich jetzt erstklassigen Butterkuchen und Rosinenkuchen backen. Letzte Woche hat mich so der Ehrgeiz gepackt, daß ich mich an Windbeutel herangewagt habe, aber die sind mir kläglich mißlungen. Platt wie Flundern kamen sie aus dem Ofen. Ich dachte. vielleicht würden sie wieder aufgehen, wenn ich sie mit Sahne fülle, aber nichts da. Ich glaube, Susan war insgeheim ganz froh darüber. Sie beherrscht die Kunst des Windbeutelmachens meisterhaft, und es würde ihr das Herz brechen, wenn irgend jemand aus der Familie das genauso gut könnte wie sie. Womöglich hat Susan heimlich – nein, das will ich ihr lieber doch nicht unterstellen.
Miranda Pryor hat mich neulich besucht und mir geholfen, bestimmte Rotkreuzgewänder auszuschneiden, die unter dem reizenden Namen ‚Ungezieferhemden‘ bekannt sind. Susan findet den Namen nicht gerade anständig, also schlug ich ihr vor, sie ‚Läusesäcke‘ zu nennen, wie Sandy, der alte Schotte, dazu sagt. Aber sie schüttelte den Kopf, und später hörte ich, wie sie zu Mutter sagte, ‚Läuse‘ und ‚Säcke‘ wären wohl nicht die richtigen Ausdrücke für ein junges Mädchen. Zu ihrem Entsetzen schrieb Jem auch noch in seinem letzten Brief an Mutter: ‚Sag Susan, daß ich heute morgen auf Läusejagd war und dreiundfünfzig gefangen habe!‘ Susan wurde grün wie eine Erbse. ‚Liebe Frau Doktor‘, sagte sie, ‚wenn zu meiner Zeit anständige Leute das Pech hatten, sich solche – solche Insekten – einzufangen, dann schwiegen sie darüber. Ich will bestimmt nicht kleinlich sein, liebe Frau Doktor, aber ich finde nach wie vor, man sollte über solche Dinge nicht reden.‘
Miranda wurde über unseren Ungezieferhemden sehr vertraulich und erzählte mir von ihren Sorgen. Sie ist todunglücklich. Sie ist mit Joe Milgrave verlobt, und der hat sich im Oktober anwerben lassen und ist seither bei der Truppenübung in Charlottetown. Ihr Vater war wütend, als er das hörte, und verbot Miranda jeden weiteren Umgang mit ihm. Der arme Joe. Er rechnet jeden Tag damit, nach Übersee zu gehen, und möchte, daß Miranda ihn noch vorher heiratet. Es muß also hinter Schnauzbarts Rücken schon zu einer Art ‚Umgang‘ zwischen den beiden gekommen sein. Miranda will ihn heiraten, aber sie kann nicht, und das bricht ihr das Herz, sagt sie.
‚Warum brennst du nicht einfach mit ihm durch und heiratest ihn?‘ fragte ich sie. Ich hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei, ihr einen solchen Rat zu geben. Joe Milgrave ist ein wunderbarer Mensch, und Mr. Pryor war ganz begeistert von ihm, bevor der Krieg ausbrach. Mr. Pryor würde Miranda ganz bestimmt verzeihen, wenn es einmal passiert ist, nur damit sie wieder zurückkommt und ihm den Haushalt führt. Aber Miranda schüttelte traurig ihr silberblondes Haupt.
‚Joe will mich, aber ich kann nicht. Mutters letzte Worte auf dem Sterbebett waren, daß ich nie, nie weglaufen dürfe, und ich habe es ihr versprochen.‘
Mirandas Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Aber wenn ich sie richtig verstanden habe, sind ihre Mutter und ihr Vater damals selber durchgebrannt, um zu heiraten. Es fällt mir allerdings schwer, mir Mondgesicht-mit-Schnauzbart vorzustellen, wie er mit seiner Geliebten durchbrennt. Aber so war es wohl, und Mrs. Pryor hat das wohl zeitlebens bereut. Sie hatte es schwer mit Mr. Pryor, und sie hielt das für die Strafe dafür, daß sie weggelaufen war. Deshalb mußte Miranda ihr versprechen, daß sie das niemals macht, egal, was kommt.
Natürlich kann man ein Mädchen nicht dazu überreden, das Versprechen zu brechen, das sie ihrer sterbenden Mutter gegeben hat. Ich sah also keine andere Möglichkeit als die, daß Joe zu ihr nach Hause kommt, wenn ihr Vater nicht da ist, und sie dort heiratet. Aber Miranda sagte, das ginge nicht. Ihr Vater hätte wohl den Verdacht, daß ihr so etwas vorschwebte, und ginge deshalb schon seit längerem nicht mehr aus dem Haus. Und Joe würde natürlich auch nicht gerade von einer Minute auf die andere Urlaub bekommen.
‚Nein, ich werde Joe einfach gehen lassen müssen, und dann wird er umkommen – ich weiß, daß er umkommt —, und das wird mir das Herz brechen‘, schluchzte Miranda, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen und die Ungezieferhemden einweichten!
Wenn ich das so formuliere, heißt das nicht, daß ich mit der armen Miranda kein Mitleid hätte. Es ist eine Gewohnheit von mir geworden, ein bißchen zu witzeln, wenn ich an Jem und Walter schreibe; ich will sie damit einfach zum Lachen bringen. Miranda tat mir wirklich leid, wo sie doch so bis über beide Ohren in Joe verliebt ist und wo sie sich so schrecklich schämt, weil ihr Vater für die Deutschen ist. Ich glaube, sie wußte, daß ich Mitleid hatte mit ihr, weil sie sagte, ich hätte mich das letzte Jahr zu so einem verständnisvollen Menschen entwickelt. Und deswegen wollte sie mir ihre Sorgen anvertrauen. Ich frage mich, ob das stimmt. Ich weiß, ich war früher ein egoistisches, gedankenloses Ding. Ich schäme mich richtig, wenn ich daran zurückdenke. Also kann ich doch jetzt so schlimm nicht mehr sein.
Wenn ich Miranda doch bloß helfen könnte. Es wäre doch bestimmt sehr romantisch, eine Kriegshochzeit anzuzetteln, und ich würde Mondgesicht-mit-Schnauzbart zu gern eins auswischen. Aber bis jetzt hat das Orakel noch nicht gesprochen.“
Eine Kriegshochzeit
„Lieber Doktor, eines kann ich Ihnen sagen“, sagte Susan, blaß vor Zorn, „Deutschland macht sich langsam wirklich lächerlich.“
Alle waren in der großen Küche von Ingleside versammelt. Susan war gerade dabei, einen Plätzchenteig fürs Abendessen anzurühren. Anne machte Butterkuchen für Jem, und Rilla mixte Kandisbonbons für Ken und Walter zusammen. Früher waren es in Rillas Gedanken immer Walter und Ken gewesen, aber irgendwie hatte sich wie von selbst die Reihenfolge geändert, und Ken war an die erste Stelle getreten. Auch Cousine Sophia war da und beschäftigte sich mit Stricken. Früher oder später würden alle Jungen umkommen, das spürte Cousine Sophia bis in die Knochen, aber besser mit warmen Füßen sterben als mit kalten. Also strickte sie mit finsterem Blick drauflos.
Mitten in diese friedliche Szene platzte Gilbert hinein, der ganz außer sich war über die Nachricht, daß die Parlamentsgebäude von Ottawa niedergebrannt worden waren. Susan ließ sich sogleich von seiner Wut anstecken.
„Was stellen diese Hunnen denn noch alles an!“ rief sie aufgebracht. „Kommen einfach hierher und stecken unsere Parlamentsgebäude in Brand! Ist das nicht eine Ungeheuerlichkeit!“
„Es steht nicht fest, ob die Deutschen dafür verantwortlich sind“, sagte Gilbert, wobei er sich so anhörte. als sei er sich dessen sicher. „Sie haben nicht bei jedem Brand die Hand im Spiel. Onkel Mark MacAllisters Scheune zum Beispiel ist letzte Woche abgebrannt. Dafür kannst du wohl schlecht den Deutschen die Schuld geben, Susan.“
„Da bin ich mir gar nicht so sicher, lieber Doktor“, sagte Susan und schüttelte unheilverkündend den Kopf. „Mondgesicht-mit-Schnauzbart war genau an dem Tag dort. Eine halbe Stunde, nachdem er weg war, brach das Feuer aus. Soviel steht jedenfalls fest – aber ich werde mich hüten, einen Kirchenältesten der Brandstiftung zu verdächtigen, ehe ich keine Beweise habe. Aber immerhin weiß doch jeder, lieber Doktor, daß beide Söhne von Onkel Mark zur Front gegangen sind und daß Onkel Mark selbst auf sämtlichen Rekrutierungsversammlungen Reden hält. Deutschland ist also bestimmt darauf bedacht, es ihm heimzuzahlen.“
„Ich würde es nie fertigbringen, auf solchen Rekrutierungsversammlungen zu sprechen“, sagte Cousine Sophia ernst. „Ich könnte es nie mit meinem Gewissen vereinbaren, den Sohn einer anderen Frau zum Kriegsdienst aufzufordern, damit er mordet und selbst ermordet wird.“
„Wirklich nicht?“ sagte Susan. „Liebe Sophia Crawford, was mich betrifft, ich könnte jeden dazu auffordern, wenn ich in der Zeitung lese, daß in Polen kein einziges Kind unter acht Jahren mehr am Leben geblieben ist. Stell dir das mal vor, Sophia Crawford“, Susan hob drohend ihren mehligen Finger, „kein – einziges – Kind – unter – acht – Jahren!“
„Wahrscheinlich haben die Deutschen sie alle aufgefressen“, seufzte Cousine Sophia.
„Das nun nicht gerade“, sagte Susan zögernd, als ob es ihr schwerfiele, die Hunnen nicht auch noch eines solchen Verbrechens beschuldigen zu können. „Zu Kannibalen sind die Deutschen bis jetzt noch nicht geworden, jedenfalls nicht, daß ich wüßte. Sie wurden ausgesetzt und mußten verhungern, die armen kleinen Geschöpfe. Das ist Mord, liebe Cousine Sophia Crawford. Bei dem Gedanken bleibt mir jeder Bissen im Halse stecken.“
„Hier steht, daß Fred Carson aus Lowbridge die Kriegsverdienstmedaille bekommen hat“, sagte Gilbert, über die Zeitung gebeugt.
„Davon habe ich schon gehört“, sagte Susan. „Er ist ein Bataillonsbote und hat irgend etwas besonders Wagemutiges getan. Sein Brief, in dem er seinen Leuten darüber schreibt, kam gerade an, als seine alte Großmutter Carson auf dem Sterbebett lag. Sie hatte bloß noch ein paar Minuten zu leben, und der Priester, der bei ihr war, fragte sie, ob es ihr recht wäre, wenn er jetzt betet. ‚Ja, ja, beten Sie nur‘, sagte sie da ziemlich ungeduldig – sie war eine Dean, lieber Doktor, und die Deans waren immer schon temperamentvoll – ‚beten Sie nur, aber beten Sie um Himmels willen leise und stören Sie mich nicht. Ich will mir diese wunderbare Nachricht noch mal durch den Kopf gehen lassen, und dazu habe ich nicht mehr viel Zeit.‘ Das war typisch Almira Carson. Fred war ihr Herzblatt. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt und hatte nicht ein einziges graues Haar auf dem Kopf, heißt es.“
„Apropos, heute morgen habe ich ein graues Haar entdeckt, mein allererstes“, sagte Anne.
„Das ist mir schon eine ganze Weile aufgefallen, liebe Frau Doktor, aber ich habe lieber nichts gesagt. Ich habe mir nur gedacht: ‚Sie hat aber auch genug auszuhalten.‘ Aber jetzt, wo Sie es entdeckt haben, darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daß graue Haare etwas Ehrenwertes sind.“
„Ich werde wohl langsam alt, Gilbert“, sagte Anne und lachte ein wenig wehmütig. „Die Leute sagen jetzt öfter zu mir, wie jung ich doch noch aussehe. Das sagen sie nie, wenn man wirklich noch jung ist. Aber ich werde mir wegen meines Silberfadens keine Sorgen machen. Ich habe rotes Haar noch nie leiden können. Gilbert, habe ich dir je davon erzählt, wie ich mir damals auf Green Gables die Haare gefärbt habe? Niemand wußte etwas davon außer Marilla.“
„War das der Grund, warum du sie dir plötzlich ganz kurz geschnitten hast?“
„Ja. Ich hatte einem deutschen Hausierer eine Flasche Farbe abgekauft. Ich bildete mir ein, mein Haar würde davon schwarz werden, aber es wurde grün. Also mußte ich es wohl abschneiden.“
„Da können Sie aber von Glück reden, liebe Frau Doktor!“ rief Susan. „Natürlich waren Sie damals zu jung, um zu wissen, was ein Deutscher ist. Das war die besondere Gnade Gottes, daß es nur grüne Farbe war und nicht Gift.“
„Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit seit der Zeit auf Green Gables“, seufzte Anne. „Das war eine ganz andere Welt. Der Krieg ist wie ein Abgrund und hat das Leben in zwei Hälften geteilt. Was vor uns liegt, weiß ich nicht, aber es kann unmöglich so sein wie die Vergangenheit. Ich frage mich, ob diejenigen von uns, die ihr halbes Leben in der alten Welt verbracht haben, sich jemals in der neuen Welt zu Hause fühlen werden.“
„Ist Ihnen auch aufgefallen“, sagte Miss Oliver, während sie von ihrem Buch aufsah, „daß alles, was vor dem Krieg geschrieben wurde, plötzlich so weit weg zu sein scheint? Man hat das Gefühl, als lese man etwas aus der Antike, wie die Ilias von Homer. Dieses Gedicht von Wordsworth – die höheren Klassen schreiben gerade eine Arbeit darüber —, ich habe es flüchtig gelesen. Diese friedliche Stille, die es ausdrückt, und diese schöne Sprache scheinen einem anderen Planeten anzugehören und haben sowenig mit dem gegenwärtigen Chaos auf dieser Welt zu tun wie der Abendstern.“
„Die Bibel ist zur Zeit das einzige, was mich trösten kann“, sagte Susan, während sie ihre Plätzchen in den Ofen schob.
„Da steht so vieles drin, was genau auf die Hunnen paßt. Sandy, der alte Schotte, behauptet, der Antichrist, von dem in der geheimen Offenbarung die Rede ist, wäre zweifellos der Kaiser, aber so weit gehe ich nicht. Wenn ich meine bescheidene Meinung dazu äußern darf, liebe Frau Doktor, dann muß ich sagen, das wäre doch eine zu große Ehre für ihn.“
Ein paar Tage später tauchte Miranda Pryor frühmorgens auf Ingleside auf, angeblich um Nähzeug fürs Rote Kreuz zu holen, in Wahrheit aber, um mit der verständnisvollen Rilla Probleme zu besprechen, die allein nicht zu ertragen waren. Sie brachte ihren Hund mit, ein überfüttertes, O-beiniges Tier, an dem sie sehr hing, weil Joe Milgrave es ihr geschenkt hatte, als es noch ganz klein war. Mr. Pryor konnte Hunde nicht leiden, aber zu der Zeit war er Joe als angehendem Schwiegersohn wohlgesonnen, und so erlaubte er ihr, das Hündchen zu behalten. Miranda war ihm dafür so dankbar, daß sie ihrem Vater einen Gefallen tun wollte, indem sie dem Hund den Namen seines politischen Idols, des großen Anführers der Liberalen, Sir Wilfrid Laurier, gab – auch wenn sie ihn bald nur noch Wilfy nannte. Sir Wilfrid wuchs und gedieh und wurde fett und fetter. Miranda verwöhnte ihn nach Strich und Faden, und außer ihr konnte ihn niemand leiden. Rilla haßte ihn regelrecht. Sie konnte es einfach nicht ausstehen, wenn er sich auf den Rücken legte und bettelnd mit den Pfoten wackelte, damit man ihm den wohlgenährten Bauch kitzelte.
Mirandas Augen ließen deutliche Anzeichen einer verweinten Nacht erkennen, also bat Rilla sie hinauf in ihr Zimmer. Sie wußte, daß Miranda nun mit einer Leidensgeschichte kam, und befahl Sir Wilfrid, solange unten zu bleiben.
„Ach bitte, kann ich ihn nicht mitnehmen?“ bettelte Miranda. „Der arme Wilfy wird uns überhaupt nicht stören, und ich habe ihm draußen vor der Tür die Pfoten ganz saubergeputzt. Er fühlt sich woanders immer so einsam, wenn ich nicht bei ihm bin, und bald wird er das einzige sein, was mich – was mich noch an – an Joe erinnert.“
Rilla willigte ein, und Sir Wilfrid trottete mit seinem vorwitzigen Ringelschwanz triumphierend vor ihnen die Treppe hinauf.
„Ach, Rilla“, schluchzte Miranda, als sie die Zufluchtsstätte erreicht hatten. „Ich bin ja so unglücklich! Ich kann dir gar nicht sagen, wie unglücklich ich bin! Es bricht mir das Herz, ganz ehrlich!“
Rilla setzte sich neben sie aufs Sofa. Sir Wilfrid hockte sich vor ihnen nieder, streckte seine freche rosa Zunge heraus und lauschte.
„Was ist los, Miranda?“
„Joe kommt heute abend das letztemal nach Hause. Am Samstag habe ich seinen Brief bekommen. Er schreibt mir an Bob Crawfords Adresse, mußt du wissen, wegen Vater. Rilla, stell dir vor, er bekommt nur vier Tage Urlaub, und Freitagmorgen muß er gehen – und ich sehe ihn womöglich nie mehr wieder.“
„Will er denn immer noch, daß du ihn heiratest?“ fragte Rilla.
„Ja, natürlich. Er hat mich in seinem Brief angefleht, fortzulaufen und ihn zu heiraten. Aber das kann ich nicht, Rilla, nicht mal ihm zuliebe. Mein einziger Trost ist, daß ich ihn morgen nachmittag eine Weile sehen kann. Vater muß geschäftlich nach Charlottetown. Dann werden wir uns wenigstens in Ruhe voneinander verabschieden können. Aber danach – ach, Rilla, ich weiß, daß Vater mich noch nicht mal am Freitagmorgen zum Bahnhof gehen läßt, um Joe Lebewohl zu sagen.“
„Warum in aller Welt geht ihr nicht hin und heiratet einfach morgen nachmittag bei dir zu Hause?“ wollte Rilla wissen.
Miranda glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen, und verschluckte sich fast an ihrem Schluchzer.
„Wie – also – also, das geht doch nicht, Rilla!“
„Wieso nicht?“ fragte Rilla kurz und bündig. Ja, wieso nicht, wo sie doch in der Lage war, ein Jugend-Rotkreuz zu organisieren und Babys in Suppenschüsseln zu transportieren!
„Weil – weil – die Idee ist uns nie gekommen. Joe hat keine Genehmigung, und ich, ich habe kein Kleid – ich kann doch nicht in Schwarz heiraten – ich – ich – wir – du – du —“
Miranda verlor völlig die Fassung. Sir Wilfrid witterte ihre arge Bedrängnis, warf den Kopf in den Nacken und ließ ein klagendes Jaulen vernehmen.
Rilla dachte ein paar Minuten scharf nach. Dann sagte sie: „Miranda, laß mich nur machen, dann bist du noch vor vier Uhr morgen nachmittag mit Joe verheiratet.“
„Das schaffst du nicht.“
„Doch, das schaffe ich. Aber du mußt genau tun, was ich dir sage.“
„Ach, ich – ich glaube nicht. Oh, Vater wird mich umbringen …“
„Unsinn. Wahrscheinlich wird er sehr ärgerlich werden. Aber du hast doch wohl vor dem Zorn deines Vaters nicht mehr Angst als davor, daß Joe nie mehr zurückkehrt?“
„Nein“, sagte Miranda mit plötzlicher Entschlossenheit. „Nein, habe ich nicht.“
„Wirst du also das tun, was ich dir sage?“
„Ja.“
„Dann rufe jetzt Joe an und sage ihm, er soll heute abend eine Genehmigung und einen Ring mitbringen.“
„Das – das geht doch nicht“, fing Miranda wieder an zu jammern, „das – das gehört sich doch einfach nicht.“
Rilla klappte hörbar die Zähne zusammen und zischte kaum hörbar: „Jetzt platzt mir aber gleich der Kragen! Dann tue ich es eben!“ rief sie laut. „Und du gehst inzwischen nach Hause und bereitest alles soweit wie möglich vor. Und wenn ich dich anrufe, um dir zu sagen, daß du kommen und mir beim Nähen helfen sollst, dann komm aber auch sofort!“
Blaß und verstört, aber wild entschlossen machte sich Miranda auf den Weg. Rilla sauste zum Telefon und meldete ein Ferngespräch nach Charlottetown an. Die Verbindung kam dermaßen prompt zustande, daß für Rilla feststand, der Allmächtige sei mit ihrem Tun einverstanden. Aber es dauerte noch eine gute Stunde, ehe sie Joe Milgrave in seinem Lager erreichen konnte. In der Zwischenzeit wanderte sie ungeduldig auf und ab und betete, daß, wenn sie Joe am Apparat hatte, niemand in der Leitung war, der mithörte und die Neuigkeit an Mondgesicht-mit-Schnauzbart weitergab.
„Bist du ’s, Joe? Hier spricht Rilla Blythe. Rilla – Rilla —, ach, egal. Hör zu. Bevor du heute abend nach Hause kommst, besorge dir eine Heiratserlaubnis – eine Heiratserlaubnis – ja, eine Heiratserlaubnis! Und einen Trauring. Hast du verstanden? Wirst du dich darum kümmern? Gut, aber nicht vergessen. Es ist eure einzige Chance!“
Rilla war ganz aus dem Häuschen. Ihre einzige Sorge war gewesen, daß sie nicht rechtzeitig zu Joe durchkam. Jetzt hieß es bei Pryors anrufen. Diesmal hatte sie nicht soviel Glück, denn sie erwischte Mondgesicht-mit-Schnauzbart.
„Ist dort Miranda? Oh, Mr. Pryor! Ach, Mr. Pryor, wären Sie so nett und würden Miranda fragen, ob sie heute nachmittag zu mir kommen und mir beim Nähen helfen kann? Es ist sehr dringend, sonst würde ich sie nicht darum bitten. Danke, vielen Dank!“
Mr. Pryor hatte sich zwar ziemlich mürrisch angehört, aber immerhin, er erlaubte es. Schließlich wollte er es sich mit Dr. Blythe nicht verderben, und wenn er Miranda verbot, für das Rote Kreuz zu arbeiten, dann würden die Leute in Glen ihm doch bloß wieder die Hölle heiß machen.
Rilla ging hinaus in die Küche, tat ganz geheimnisvoll und machte alle Türen zu. Susan schöpfte gleich wieder Verdacht. Dann sagte Rilla feierlich: „Susan, kannst du heute nachmittag einen Hochzeitskuchen backen?“
„Was, einen Hochzeitskuchen?!“ Susan starrte sie ungläubig an. Rilla hatte ihr einst ohne Vorwarnung ein Kriegsbaby ins Haus geschleppt. Sollte sie nun ebenso plötzlich und unerwartet einen Ehegatten anschleppen?
„Ja, einen Hochzeitskuchen – einen ganz besonderen Hochzeitskuchen, Susan, einen wunderschönen Hochzeitskuchen mit vielen Rosinen und vielen Eiern und mit Zitronenschale. Und wir müssen noch ein paar andere Sachen vorbereiten. Ich werde dir morgen früh helfen. Aber heute nachmittag habe ich keine Zeit, weil ich ein Hochzeitskleid nähen muß. Jede Minute zählt, Susan.“
Susan war wohl doch inzwischen zu alt für solche schockartigen Überraschungen.
„Wen gedenkst du denn zu heiraten, Rilla?“ fragte sie schwach.
„Aber liebe Susan, nicht ich bin die glückliche Braut. Miranda Pryor wird Joe Milgrave heiraten, und zwar morgen nachmittag, wenn ihr Vater in der Stadt ist. Eine Kriegshochzeit, Susan – ist das nicht aufregend und romantisch? Noch nie im Leben war ich so aufgeregt!“
Die Aufregung erfaßte bald ganz Ingleside, einschließlich Anne und Susan.
„Auf der Stelle werde ich diesen Hochzeitskuchen in Angriff nehmen“, gelobte Susan mit einem Blick auf die Uhr. „Liebe Frau Doktor, würden Sie mir helfen, die Rosinen auszulesen und die Eier aufzuschlagen? Dann könnte ich den Kuchen heute abend noch in den Ofen schieben. Morgen früh können wir dann Salate und so was machen. Ich werde die ganze Nacht durchmachen, wenn nötig, damit ich endlich Mondgesicht-mit-Schnauzbart eins auswischen kann.“
Atemlos und den Tränen nah kam Miranda angekeucht.
„Wir müssen mein weißes Kleid umändern, damit es dir paßt“, sagte Rilla. „Du siehst dann bestimmt sehr nett darin aus.“
Und schon wurde aufgetrennt, anprobiert, geheftet und genäht, als sei der Teufel hinter ihnen her. Sie schafften so unermüdlich, daß das Kleid bis sieben Uhr abends fertig war und Miranda es in Rillas Zimmer anziehen konnte.
„Es ist wirklich sehr hübsch, aber – ach, was gäbe ich um einen Schleier“, seufzte Miranda. „Ich habe immer schon davon geträumt, mit einem schönen weißen Schleier zu heiraten.“
Es gibt wohl eine gute Fee, die die Wünsche einer Kriegsbraut erhört. Die Tür ging auf, und Anne kam herein, mit einer hauchdünnen Last auf dem Arm.
„Liebe Miranda“, sagte sie. „Ich möchte, daß du morgen meinen Hochzeitsschleier trägst. Es ist vierundzwanzig Jahre her, daß ich eine Braut war, damals auf Green Gables – die glücklichste Braut auf Erden. Und der Hochzeitsschleier einer glücklichen Braut bringt Glück, heißt es.“
„Oh, wie lieb von Ihnen, Mrs. Blythe“, sagte Miranda, während ihr die einsatzbereiten Tränen in die Augen traten.
Der Schleier wurde anprobiert und drapiert. Susan schneite bewundernd herein, nahm sich aber nicht lange Zeit.
„Ich habe den Kuchen im Ofen“, sagte sie. „Und ich spitze fleißig die Ohren. In den Abendnachrichten heißt es, der Großherzog hätte Erzerum eingenommen. Das ist eine bittere Pille für die Türken. Wie konnte der Zar nur den Fehler machen und Nicholas abkanzeln.“
Susan entschwand wieder in die Küche. Im selben Augenblick waren ein dumpfer Schlag und ein durchdringender Schrei zu hören. Alles rannte hinunter in die Küche: Gilbert und Miss Oliver, Anne, Rilla und Miranda mit ihrem Hochzeitsschleier. Susan saß mit ausgestreckten Beinen mitten auf dem Küchenboden und machte ein völlig verstörtes Gesicht, während Doc offensichtlich wieder mal als Mr. Hyde auftrat und mit Katzenbuckel, blitzenden Augen und steil aufgerichtetem Schwanz – dreimal so lang wie gewöhnlich – auf der Anrichte stand.
„Susan, was ist passiert?“ rief Anne erschrocken. „Bist du hingefallen? Bist du verletzt?“
Susan stand mühsam auf. „Nein“, sagte sie grimmig. „Ich bin nicht verletzt, auch wenn ich am ganzen Körper zittere. Kein Grund zur Unruhe. Es ist nichts passiert, ich habe bloß versucht, diesem verdammten Kater mit beiden Füßen einen Tritt zu versetzen.“
Alles prustete los. Gilbert konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.
„Susan, Susan!“ keuchte er. „Daß du mal fluchst, wer hätte das gedacht!“
„Tut mir leid, daß ich in Anwesenheit zweier junger Damen einen solchen Ausdruck gebraucht habe“, sagte Susan mit schlechtem Gewissen. „Aber es ist nun mal ein verdammter Kater. Der ist doch mit dem Teufel im Bunde!“
„Dann wird er wohl eines Tages mit lautem Getöse und Schwefelgestank zur Hölle fahren, was. Susan?“
„Er wird rechtzeitig dahin gehen, wohin er gehört, darauf könnt ihr euch verlassen“, sagte Susan mürrisch, brachte ihre Knochen wieder in Ordnung und ging zum Ofen. „Der Plumps auf den Boden hat jetzt bestimmt meinen schönen Kuchen so erschüttert, daß er schwer ist wie Blei.“
Aber der Kuchen war nicht schwer wie Blei. Er war genau so, wie ein Hochzeitskuchen sein soll, und Susan verzierte ihn mit einer hübschen Glasur. Am Tag darauf hatten Susan und Rilla alle Hände voll damit zu tun, Delikatessen fürs Hochzeitsmahl zuzubereiten. Und sobald Miranda anrief, um ihnen mitzuteilen, daß ihr Vater endlich weg sei, wurde alles in einen großen Korb gepackt und zu den Pryors hinübergebracht. Bald darauf erschien Joe ganz aufgeregt in seiner Uniform, und Sergeant Malcolm Crawford begleitete ihn als Trauzeuge. Es kamen einige Gäste zusammen, nämlich alle aus dem Pfarrhaus und aus lngleside und ungefähr ein Dutzend Verwandte von Joe, einschließlich seiner Mutter, die man scherzhaft „die Frau von Angus Milgrave dem Toten“ nannte, um sie von jener Dame zu unterscheiden, deren Angus noch am Leben war. Die Frau von Angus dem Toten machte ein ziemlich mißbilligendes Gesicht; sie war nicht gerade begeistert von der Verbindung mit dem Hause Mondgesicht-mit-Schnauzbart.
Auf jeden Fall wurde Miranda Pryor mit dem Soldaten Joseph Milgrave getraut. Eine romantische Hochzeit hätte es werden sollen, aber es hatte nicht sollen sein. Zu viele Umstände verhinderten die erhoffte Romantik, wie selbst Rilla zugeben mußte. Erstens sah Miranda trotz Kleid und Schleier viel zu langweilig aus, um eine schöne Braut abzugeben, und zweitens weinte Joe während der ganzen Zeremonie ganz bitterlich, worüber Miranda sich unverständlicherweise ärgerte. Erst viel später vertraute sie Rilla an: „Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt: ‚Wenn du es so schlimm findest, mich heiraten zu müssen, dann laß es doch bleiben.‘ Dabei hat er nur deshalb geweint, weil er die ganze Zeit an unseren Abschied denken mußte.“
Drittens bekam Jims, der sonst so umgänglich mit anderen Leuten war, plötzlich einen Anfall von Schüchternheit und Eigensinn und fing an, wie am Spieß nach „Willa“ zu kreischen. Niemand fand sich bereit, ihn hinauszubringen, weil niemand die Hochzeit verpassen wollte, also mußte Rilla, die die Brautjungfer war, ihn während der Zeremonie zu sich nehmen und ihn festhalten.
Viertens fing Sir Wilfrid Laurier an, verrückt zu spielen. Man hatte ihn in einer Ecke hinter Mirandas Klavier verstaut. Dort gab er plötzlich die eigenartigsten und schauerlichsten Geräusche von sich. Es fing an mit krampfartigen Würgelauten, die in ein scheußliches Gegurgel übergingen, und endete mit einem Gejapse, als ob er stranguliert würde. Keiner verstand ein Wort von dem, was Mr. Meredith sagte, außer in den kurzen Pausen, in denen Sir Wilfrid Luft holte. Keiner schaute die Braut an, bis auf Susan, die vor lauter Rührung den Blick nicht von ihrem Gesicht wenden konnte. Alle anderen starrten den Hund an. Miranda hatte erst vor lauter Aufregung gezittert, doch sobald Sir Wilfrid mit seiner Vorstellung begann, war es vorbei damit. Ihr einziger Gedanke war, daß ihr armer Hund im Sterben lag und sie nicht bei ihm sein konnte. Kein Wort der Traurede blieb ihr in Erinnerung.
Rilla, die trotz Jims versucht hatte, ein verzücktes und romantisches Gesicht zu machen, wie es sich für eine Kriegsbrautjungfer ziemte, gab den hoffnungslosen Versuch schließlich auf und war statt dessen bemüht, das unangebrachte Kichern, das sich ihr aufdrängen wollte, zu unterdrücken.
Sie wagte nicht, irgend jemanden im Raum anzusehen, schon gar nicht die Frau von Angus dem Toten, vor lauter Angst, sie könnte dann nicht länger an sich halten und müßte in ein lautes, höchst undamenhaftes Gelächter ausbrechen.
Immerhin, die Hochzeit fand statt, und danach gab es im Eßzimmer einen so verschwenderischen Hochzeitsschmaus, als seien dafür wochenlange Vorbereitungen nötig gewesen. Jeder hatte irgend etwas mitgebracht. Die Frau von Angus dem Toten hatte einen großen Apfelkuchen angeschleppt, den sie auf einem Stuhl im Eßzimmer abgestellt hatte, um sich nachher in ihrer Vergeßlichkeit darauf zu setzen. Das kam weder ihrer Stimmung noch ihrem schwarzen Seidenkleid zugute, und den Kuchen vermißte auch niemand bei dem fröhlichen Hochzeitsfest. Woraufhin die Frau von Angus dem Toten ihn schließlich wieder mit nach Hause nahm. Mondgesicht-mit-Schnauzbarts Hausschwein sollte ihn jedenfalls nicht bekommen.
Am Abend brachen Mr. und Mrs. Joe in Begleitung des wiederauferstandenen Sir Wilfrid zum Leuchtturm von Four Winds auf, der von Joes Onkel bewacht wurde. Dort wollten sie ihren kurzen Flitterabend verbringen. Una Meredith, Rilla und Susan wuschen das Geschirr ab, räumten auf, ließen ein kaltes Abendessen und Mirandas mitleidsvolle Notiz für Mr. Pryor auf dem Tisch zurück und traten den Heimweg an, während sich der geheimnisvolle Schleier der winterlichen Abenddämmerung über Glen ausbreitete.
„Es muß schön sein, eine Kriegsbraut zu sein“, bemerkte Susan gerührt.
Rilla fühlte sich ziemlich matt – vielleicht als Folge der ganzen Aufregung und Hektik der vergangenen sechsunddreißig Stunden. Irgendwie war sie enttäuscht. Die ganze Angelegenheit war ihr so albern vorgekommen und Miranda und Joe so weinerlich und langweilig.
„Wenn Miranda diesen jämmerlichen Hund nicht überfüttert hätte, dann hätte er auch keinen Anfall gekriegt“, schimpfte sie. „Ich habe sie noch gewarnt, aber sie sagte, sie könne doch den armen Hund nicht verhungern lassen, und er wäre doch bald alles, was ihr noch bleibt, und so weiter und sofort. Ich hätte sie schütteln können.“
„Der Trauzeuge war noch aufgeregter als Joe“, sagte Susan. „Als er ihr gratulierte und ihr alles Gute wünschte, sah sie nicht sehr glücklich aus. Aber das kann man unter solchen Umständen vielleicht auch nicht erwarten.“
Na, auf jeden Fall werden die Jungen was zu lachen haben, wenn ich ihnen davon schreibe, dachte Rilla. Jem wird sich totlachen über Sir Wilfrids Auftritt!
Doch wenn Rilla auch enttäuscht war über die Kriegshochzeit, so entsprach der folgende Morgen, als es für Miranda hieß, von ihrem Bräutigam auf dem Bahnhof Abschied zu nehmen, ganz ihren Vorstellungen. Die Morgendämmerung schimmerte so weiß wie eine Perle und so klar wie ein Diamant. Die jungen Tannen hinter dem Bahnhof waren von Rauhreif überzogen. Der kalte Mond hing über den Schneefeldern im Westen, während die goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne die Ahornbäume von Ingleside umsäumten. Joe nahm seine kleine blasse Braut in die Arme, und sie sah zu ihm auf. Rilla mußte plötzlich schlucken. Was machte es schon, wenn Miranda ein unbedeutendes, langweiliges Mädchen war. Was machte es schon, wenn sie die Tochter von Mondgesicht-mit-Schnauzbart war. Das zählte doch nicht im Vergleich zu dem hingerissenen, aufopferungsvollen Blick in ihren Augen – diesem immerwährenden Feuer der Liebe und Treue und dem Mut, Joe ohne Worte das Versprechen zu geben, daß sie und Tausende von anderen Frauen zu Hause auf sie warten würden, während ihre Männer an der Westfront die Stellung hielten.
Rilla machte kehrt, als sie merkte, daß es nicht richtig war, in so einem Augenblick zu spionieren. Sie ging bis zum Ende des Bahnsteigs, wo Sir Wilfrid und Monday hockten und sich gegenseitig musterten.
Sir Wilfrid schien zu bemerken: „Warum lungerst du in dieser alten Hütte herum, wo du es dir vor dem Kamin von Ingleside bequem machen und in Saus und Braus leben könntest? Spielst du Theater? Oder ist das eine fixe Idee von dir?“
Darauf Mondays knappe Antwort: „Ich habe eine Verabredung.“
Als der Zug abgefahren war, ging Rilla wieder auf die zitternde Miranda zu.
„Jetzt ist er fort“, sagte Miranda, „und kommt womöglich nie mehr wieder. Aber ich bin seine Frau, und ich will seiner würdig sein. Ich gehe jetzt nach Hause.“
„Willst du nicht lieber mit zu mir kommen?“ fragte Rilla. Bis jetzt wußte noch niemand, wie Mr. Pryor die Sache aufgenommen hatte.
„Nein. Wenn Joe sich den Hunnen stellen kann, dann werde ich mich wohl auch meinem Vater stellen können“, sagte Miranda tapfer. „Die Frau eines Soldaten darf kein Feigling sein. Komm, Wilfy. Ich gehe jetzt nach Hause und werde das Schlimmste über mich ergehen lassen.“
Aber so schlimm wurde es gar nicht. Vielleicht hatte sich Mr. Pryor gesagt, daß Haushälterinnen schwer zu bekommen waren und daß Miranda die Tür bei so vielen Milgraves offenstand – und nicht zuletzt gab es ja auch noch so etwas wie eine Trennungszulage. Er zeigte sich zwar mürrisch und sagte, sie hätte sich wohl ziemlich albern benommen, und das würde sie ihr Leben lang bereuen, aber das war auch alles, was er sagte. Mrs. Joe band sich daraufhin die Schürze um und ging wie immer an die Arbeit, während sich Sir Wilfrid Laurier, der vom Leuchtturm die Nase voll hatte, in seiner Kuschelecke hinter der Brennholzkiste schlafen legte und froh war, von Kriegshochzeiten fortan verschont zu bleiben.
Gertrudes Traum
An einem kalten, grauen Februarmorgen wachte Gertrude Oliver zitternd auf. Sie flüchtete sich hinüber in Rillas Zimmer und kroch zu ihr ins Bett.
„Rilla, ich habe Angst. Ich habe Angst wie ein kleines Kind, weil ich wieder einen meiner merkwürdigen Träume gehabt habe. Etwas Schreckliches steht uns bevor, ich weiß es!“
„Was war das denn für ein Traum?“ fragte Rilla.
„Ich stand wieder auf der Verandatreppe, so wie in dem Traum in der Nacht vor dem Leuchtturmfest. Am Himmel kam eine riesengroße, bedrohliche Gewitterwolke von Osten heran. Kaum sah ich ihren Schatten heranjagen, war ich auch schon von ihr eingehüllt und zitterte vor Kälte. Dann brach der Sturm los – ein entsetzlicher Sturm – blendende Blitze, ohrenbetäubende Donnerschläge, wolkenbruchartiger Regen. In Panik wollte ich losrennen, um Schutz zu suchen, und als ich mich umdrehte, kam ein Mann die Treppe heraufgestürzt und stellte sich neben mich auf die Türschwelle. Es war ein Soldat, der die Uniform eines französischen Offiziers trug. Seine Kleidung war blutdurchtränkt von einer Wunde in der Brust, und er machte einen völlig erschöpften Eindruck; aber sein Blick war gefaßt, und seine Augen in dem eingefallenen, blassen Gesicht glühten. ‚Sie werden nicht durchkommen.‘ sagte er mit leiser, leidenschaftlicher Stimme, die ich im Tumult des Sturms kaum vernahm. Dann wachte ich auf. Rilla, ich habe Angst. Ich habe Angst, daß der Frühling doch nicht den großen Vorstoß bringt, auf den wir alle gehofft haben. Statt dessen wird er Frankreich einen schrecklichen Schlag bescheren. Dessen bin ich mir ganz sicher. Die Deutschen werden irgendwo durchzubrechen versuchen.“
„Ich denke, er hat gesagt, sie werden nicht durchkommen“, sagte Rilla ernst. Sie lachte nie über Gertrudes Träume, so wie ihr Vater es gern tat.
„Ich weiß nicht, ob das eine Prophezeiung war oder ein Ausruf der Hoffnungslosigkeit. Rilla, die Angst sitzt mir jetzt noch eiskalt im Nacken. Wir werden sehr bald unseren ganzen Mut einsetzen müssen.“
Am Frühstückstisch lachte Gilbert noch über Miss Olivers Traum, doch das war das letztemal. Denn an diesem Tag kam die Nachricht vom Beginn des Angriffs auf Verdun, und den ganzen Frühling lang lebten die Ingleside-Bewohner in einem Zustand von Angst und Schrecken. An manchen Tagen machten sie sich völlig entmutigt auf das Ende gefaßt, denn die Deutschen näherten sich langsam, aber sicher den Verteidigungslinien des verzweifelten Frankreich.
Während Susan die Küche von Ingleside auf Hochglanz brachte, war sie in Gedanken auf den Hügeln um Verdun. „Liebe Frau Doktor“, sagte sie, als sie am Abend noch einmal den Kopf zur Tür hereinsteckte, „ich kann nur hoffen, daß die Franzosen den Krähenwald – ‚Crow’s Wood’ – behalten haben.“
Und am nächsten Morgen fragte sie sich, ob wohl der Hügel des Toten Mannes – ‚Dead Man’s Hill’ – noch in ihrer Hand war. Susan hätte eine Landkarte von der Gegend um Verdun anfertigen können, über die ein Generalstabschef nur gestaunt hätte.
„Wenn die Deutschen Verdun erobern, dann ist Frankreich mit seiner Kraft am Ende“, sagte Miss Oliver erbittert.
„Sie werden es nicht erobern“, behauptete Susan, obwohl sie an diesem Tag keinen Bissen herunterbekam vor lauter Angst, sie könnten es doch schaffen. „Erstens haben Sie ja geträumt, daß sie nicht durchkommen – Sie haben genau das geträumt, was die Franzosen gesagt haben: ‚Sie werden nicht durchkommen.‘ Ich versichere Ihnen, liebe Miss Oliver, mir lief es kalt den Rücken herunter, als ich das in der Zeitung las und an Ihren Traum denken mußte. Das erinnert mich an die Bibel, wo die Leute auch oft von solchen Dingen träumten.“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte Gertrude, während sie unruhig auf und ab lief. „In meinen Träumen habe ich auch einen ganz festen Glauben, aber jedesmal, wenn schlechte Nachrichten kommen, falle ich wieder davon ab. Dann rede ich mir ein, das wäre alles reiner Zufall oder käme vom Unterbewußtsein oder irgend so etwas.“
„Aber ich verstehe nicht, wie man sich an etwas erinnern kann, bevor es je gesagt worden ist“, sagte Susan. „Natürlich bin ich nicht so gebildet wie Sie und der Doktor. Das ist wohl auch besser so, sonst werden die einfachsten Dinge viel zu kompliziert. Aber auf jeden Fall brauchen wir uns um Verdun keine Sorgen zu machen, selbst wenn die Hunnen durchkommen. Joffre sagt, das hätte keine militärische Bedeutung.“
„Damit sind wir schon oft genug vertröstet worden, und dann war das Gegenteil der Fall“, erwiderte Gertrude. „Darauf falle ich nicht mehr herein.“
„Hat es auf dieser Welt jemals eine solche Schlacht gegeben?“ fragte Mr. Meredith eines Abends im April.
„Das Ganze hat ein Ausmaß erreicht, das wir gar nicht mehr erfassen können“, sagte Gilbert. „Was waren dagegen schon die Raufereien von ein paar homerischen Kriegern? Der ganze Trojanische Krieg hätte sich rings um die Feste von Verdun abspielen können, und ein Zeitungsreporter hätte der Sache nicht mehr als einen Satz gewidmet. Ich glaube zwar nicht an übersinnliche Mächte“, und dabei zwinkerte Gilbert Miss Oliver zu, „aber ich werde das Gefühl nicht los, daß der ganze weitere Verlauf des Krieges davon abhängt, was aus Verdun wird. Wie Susan und Joffre richtig sagen, das hat keine wirkliche militärische Bedeutung; aber es hat die enorme Bedeutung einer unglaublichen Idee. Wenn Deutschland nämlich dort gewinnt, dann gewinnt es den Krieg. Wenn es verliert, dann wird der Strom in die entgegengesetzte Richtung fließen.“
„Es wird verlieren!“ ereiferte sich Mr. Meredith. „Die Idee kann nicht erobert werden. Frankreich ist ein wunderbares Land. In ihm sehe ich die weiße Form der Zivilisation, die sich entschlossen gegen die schwarzen Mächte der Barbarei zur Wehr setzt. Ich glaube, daß die ganze Welt das so sieht, und deshalb warten wir alle mit atemloser Spannung auf den Ausgang. Es geht nicht nur darum, ob ein paar Festungen in andere Hände übergehen oder nicht oder ob ein paar Meilen blutgetränkter Erde verloren oder gewonnen werden.“
„Ich wüßte gerne“, sagte Gertrude nachdenklich, „ob wir als Lohn für unser Leid eine besondere Gnade zu erwarten haben, eine Gnade, die dem Preis gerecht wird. Sind die Qualen, die die Welt erschaudern lassen, der Geburtsschmerz eines wunderbaren neuen Zeitalters? Oder sind sie bloß ein vergeblicher Ameisenkampf im Schein von Abermillionen Sonnen? Wenn ein Ameisenhügel zerstört wird und die Hälfte seiner Bewohner dabei umkommt, ist das für uns keine Katastrophe, Mr. Meredith. Ob wohl die Macht, die das Universum regiert, uns für wichtiger hält als wir die Ameisen?“
„Sie vergessen“, sagte Mr. Meredith mit funkelnden Augen, „daß eine unendliche Macht genauso unendlich klein wie unendlich groß sein muß. Wir sind keines von beiden, und deshalb gibt es Dinge, die für uns zu klein sind oder zu groß, als daß wir sie begreifen könnten. Für eine unendlich kleine Macht ist eine Ameise genauso wichtig wie ein Mastodon. Wir sind Zeugen des Geburtsschmerzes eines neuen Zeitalters, aber alles wird am Anfang schwächlich und hilflos sein. Ich gehöre nicht zu denen, die als Resultat dieses Krieges sofort einen neuen Himmel und eine neue Erde erwarten. Das ist nicht die Art und Weise, wie Gott vorgeht. Aber er geht vor, Miss Oliver, und am Ende wird er das erreicht haben, was er vorhatte.“
„So ist’s recht, so ist’s recht“, murmelte Susan zustimmend draußen in der Küche. Hin und wieder gefiel es ihr, wenn der Pfarrer Miss Oliver eins draufgab. Susan hatte Miss Oliver zwar sehr gern, aber sie fand, daß sie gegenüber den Pfarrern viel zu ketzerische Dinge sagte und deshalb ab und zu daran erinnert werden mußte, daß diese Angelegenheiten nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörten.
Im Mai kam ein Brief von Walter, in dem er schrieb, daß man ihm die D. C. – Distinction-Cross-Medaille – überreicht hatte. Wofür, das schrieb er nicht, aber die anderen Jungen sorgten dafür, daß es sich in Glen herumsprach, wie tapfer Walter gewesen war. „In jedem anderen Krieg hätte er eine V. C. – Victory-Cross-Medaille – bekommen“, schrieb Jerry Meredith. „Aber eine V. C. wäre gar nichts Außergewöhnliches mehr, wenn sie allen verliehen würde, die hier tagtäglich mutige Taten vollbringen.“
„Ich finde, er hat die Victory Cross verdient!“ sagte Susan empört. Sie war sich zwar nicht ganz sicher, wem genau sie die Schuld daran geben sollte, daß er sie nicht bekommen hatte, aber angenommen, General Haig steckte dahinter, dann überkamen sie doch ernsthafte Zweifel, ob der sich wirklich zum Oberbefehlshaber eignete.
Rilla war ganz außer sich vor Freude. Ihr geliebter Walter hatte eine tapfere Tat vollbracht – Walter, dem jemand auf dem Redmond-College eine weiße Feder geschickt hatte! Walter war es gewesen, der aus dem sicheren Schützengraben gesprungen war, um einen verwundeten Kameraden hereinzuziehen, der auf Niemandsland gefallen war. Zu gern hätte sie ihn dabei gesehen, mit seinem schönen Gesicht und seinen wundervollen Augen. Und sie, sie war die Schwester eines so großen Helden! Und für ihn war es noch nicht mal der Mühe wert, davon zu schreiben. So viele andere Dinge standen in seinem Brief, kleine, sehr persönliche Dinge, die sie in wolkenlosen, längst vergangenen Tagen miteinander geteilt hatten.
„Ich muß an die Narzissen denken in unserem Garten von Ingleside“, schrieb er. „Bis Du diesen Brief bekommst, werden sie bestimmt schon in voller Blüte stehen unter dem schönen, rosaroten Himmel. Sind sie wirklich genauso leuchtend und golden wie immer, Rilla? Eigentlich müßten sie rot gefärbt sein von Blut, so wie die Mohnblumen, die hier wachsen. Und jedes Frühlingsflüstern wird sich im Regenbogental in ein Veilchen verwandeln.
Heute ist Neumond. Schmal und silbern hängt er über diesen Elendsgräben. Ob Du ihn heute abend auch siehst über dem Ahornwäldchen? Ich lege ein Stück Papier mit einem Gedicht bei. Ich habe es eines Abends auf meinem Platz im Schützengraben geschrieben, beim Schein eines Kerzenstummels, das heißt, dort ist es mir eingefallen. Ich hatte gar nicht das Gefühl, als ob ich es schreibe – es war, als würde mich irgend etwas als Instrument benutzen. So etwas ist mir schon ein- oder zweimal passiert, aber nur sehr schwach, nie so stark wie diesmal. Deshalb habe ich es diesmal an die Londoner Zeitung Spectator geschickt. Sie haben es gedruckt, und heute habe ich die Kopie davon bekommen. Ich hoffe, es gefällt Dir. Es ist das einzige Gedicht, das ich seit meiner Überfahrt geschrieben habe.“
Das Gedicht war kurz, aber sehr rührend. In nur einem Monat trug es Walters Namen um die ganze Welt. Überall wurde es veröffentlicht: in den Tageszeitungen der großen Städte und in den Wochenblättern der kleinen Dörfer, in kritischen Zeitschriften und „Seufzerspalten“, in Rotkreuzaufrufen und in der Rekrutierungspropaganda der Regierung. Mütter und Schwestern brachen beim Lesen in Tränen aus, Jugendliche waren ganz hingerissen davon, für die Menschen auf der ganzen Welt war es der Inbegriff all des Schmerzes, der Hoffnung, des Elends und des Zieles dieses ungeheuren Konflikts, der in drei kurzen, unvergänglichen Versen seinen Ausdruck fand. Ein junger Kanadier aus den Schützengräben von Flandern hatte das Kriegsgedicht geschrieben. Der Pfeifer von Walter Blythe war von seiner ersten Veröffentlichung an ein Klassiker.
Rilla schrieb es an den Anfang eines Tagebuchkapitels, in dem sie von der schweren Zeit der vergangenen Woche berichtete.
„Es war eine ganz schreckliche Woche“, schrieb sie. „Obwohl sie jetzt vorbei ist und obwohl wir jetzt wissen, daß alles ein Irrtum war, hat sie ihre Spuren hinterlassen. Anders gesehen war es eine sehr schöne Woche, und ich habe ein paar ganz neue Erfahrungen gewonnen – nämlich wie freigebig und wie mutig die Menschen inmitten all dieses Schreckens sein können. Miss Oliver hat sich besonders großartig verhalten, das könnte ich nie.
Vor genau einer Woche bekam sie einen Brief von Mr. Grants Mutter aus Charlottetown. Sie schrieb, sie hätte gerade ein Telegramm bekommen, daß Major Robert Grant vor ein paar Tagen gefallen sei.
Die arme Gertrude! Zuerst war sie erschüttert. Aber schon einen Tag danach riß sie sich zusammen und ging wieder in die Schule. Sie weinte nicht – ich habe sie überhaupt noch nie weinen sehen —, aber ihr Gesicht und ihre Augen!
‚Ich muß mit meiner Arbeit weitermachen‘, sagte sie. ‚Gerade jetzt ist das meine Pflicht.‘
Ich hätte das nie geschafft; das muß man ihr wirklich hoch anrechnen.
Auch ihre Worte verrieten keinen Schmerz, außer einmal, als Susan sagte, endlich sei es Frühling. Da sagte Gertrude: ‚Kann es dieses Jahr wirklich Frühling werden?‘ Dann lachte sie – aber es war ein ganz schreckliches Lachen, so wie man vielleicht dem Tod ins Gesicht lacht, und sie sagte: ‚Ich weiß, das ist egoistisch. Bloß weil ich, Gertrude Oliver, einen Freund verloren habe, soll man sich nicht vorstellen können, daß es Frühling wird wie immer. Wieso sollte der Frühling ausbleiben, bloß weil Millionen Menschen leiden – aber wenn ich leide – ach, wie kann die Welt sich nur weiterdrehen?‘
‚Sie dürfen nicht so hart mit sich sein‘, sagte Mutter freundlich. ‚Wenn ein solcher Schlag unser Leben verändert, dann ist es ganz natürlich, wenn man das Gefühl hat, nichts kann so weitergehen wie bisher. Das geht jedem so.‘
Darauf hub diese schreckliche alte Cousine Sophia an. Sie saß da und strickte und jammerte und krächzte ‚wie ein alter Rabe‘, wie Walter immer gesagt hatte.
‚Es gibt Leute, denen geht es schlechter als Ihnen, Miss Oliver‘, sagte sie, ‚das müssen Sie nicht so schwer nehmen. Manche haben ihre Ehemänner verloren; das ist ein harter Schlag! Und manche ihre Söhne. Sie haben doch weder einen Mann noch einen Sohn verloren.‘
‚Nein‘, sagte Gertrude barsch. ‚Stimmt, ich habe nicht meinen Mann verloren. Ich habe nur den Mann verloren, der mein Mann geworden wäre. Stimmt, ich habe keinen Sohn verloren – nur die Söhne und Töchter, die ich vielleicht bekommen hätte und die ich jetzt nie mehr bekomme.‘
‚Es gehört sich nicht für eine Dame, so zu reden‘, sagte Cousine Sophia schockiert. Darauf mußte Gertrude laut lachen, so laut, daß Cousine Sophia es mit der Angst zu tun bekam. Und als die arme Gertrude es nicht länger ertragen konnte und aus dem Zimmer lief, da meinte Cousine Sophia zu Mutter, ob dieser Schlag vielleicht Miss Olivers Gemüt angegriffen hätte.
,Ich mußte den Verlust von zwei sehr guten Freunden ertragen‘, sagte sie. ‚Aber so hat mich das nicht getroffen.’
Das glaube ich auch. Die armen Männer müssen froh gewesen sein, daß sie sterben durften.
Ich habe gehört, wie Gertrude fast die ganze Nacht in ihrem Zimmer auf und ab gewandert ist. Jede Nacht ging sie auf und ab, aber in jener Nacht besonders lang. Und einmal hörte ich einen kurzen Schrei, als ob sie erdolcht würde. Ich konnte nicht schlafen, weil sie mir so leid tat; und ich konnte ihr nicht helfen. Ich dachte, die Nacht ginge nie zu Ende. Aber dann ging sie doch zu Ende, und ‚Freude kam am Morgen‘, wie die Bibel sagt. Genaugenommen kam die Freude nicht am Morgen, sondern am späten Nachmittag. Das Telefon läutete, und ich ging dran. Es war die alte Mrs. Grant aus Charlottetown. Sie sagte, es wäre alles ein Irrtum gewesen, Robert wäre überhaupt nicht gefallen. Er wäre nur am Arm leicht verletzt worden und läge jetzt für einige Zeit sicher im Krankenhaus. Niemand wisse bis jetzt, wie es zu dem Irrtum gekommen sei, aber wahrscheinlich hätte es noch einen mit dem Namen Robert Grant gegeben.
Ich hängte den Hörer ein und flog hinunter zum Regenbogental. Ja, bestimmt, ich flog, ich kann mich nicht erinnern, auch nur einmal den Boden berührt zu haben. Ich traf Gertrude auf dem Heimweg von der Schule, bei den Fichten, wo wir früher gespielt haben. Atemlos platzte ich mit der Neuigkeit heraus. Ein bißchen mehr Verstand hätte ich schon haben können! Ich als Arzttochter! Aber ich war so verrückt vor Freude und Aufregung, daß ich mir einfach keine Gedanken machte. Gertrude fiel in Ohnmacht, mitten in das leuchtende junge Farnkraut hinein, als ob sie jemand erschossen hätte. Der Schreck ist mir – zumindest in dieser Hinsicht – für den Rest des Lebens eine Lehre. Ich dachte, sie wäre tot, mir fiel ein, daß ihre Mutter schon in jungen Jahren ganz plötzlich an Herzversagen gestorben war. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, bis ich merkte, daß ihr Herz noch schlug. Das war vielleicht lustig! Ich habe noch nie jemand in Ohnmacht fallen sehen, und ich konnte keine Hilfe holen, weil niemand zu Hause war. Sie waren alle zum Bahnhof gegangen, um Di und Nan abzuholen, die aus Redmond kamen. Aber ich wußte – theoretisch zumindest —, was man tun muß, wenn jemand in Ohnmacht gefallen ist. Und jetzt weiß ich es sogar praktisch. Zum Glück war der Bach in greifbarer Nähe, und nachdem ich ihr eine Handvoll Wasser nach der anderen ins Gesicht geschüttet hatte, kam sie wieder zu sich. Sie sagte kein Wort zu der Neuigkeit, und ich traute mich auch nicht, noch mal davon anzufangen. Ich stützte sie auf dem Weg durchs Ahornwäldchen bis hinauf zu ihrem Zimmer, und dann sagte sie: ‚Rob – ist – am Leben‘, als ob ihr die Worte aus dem Leib gerissen würden; dann warf sie sich aufs Bett und weinte und weinte und weinte. Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen. All die Tränen, die sie die ganze Woche nicht vergossen hatte, weinte sie jetzt. Ich glaube, sie hat fast die ganze letzte Nacht geweint, aber heute morgen machte sie ein Gesicht, als hätte sie irgendeine Vision gehabt. Wir waren alle so glücklich, daß es uns fast angst gemacht hat.
Di und Nan sind für ein paar Wochen zu Hause. Dann nehmen sie ihre Rotkreuzarbeit im Trainingslager von Kingsport wieder auf. Ich beneide sie. Vater sagt, was ich hier mache mit Jims und meinem Jugend-Rotkreuz sei genauso wertvoll. Aber das ist nicht so romantisch wie das, was sie machen.
Kut ist gefallen. Es war fast eine Erleichterung, weil wir es schon so lange befürchtet haben. Einen Tag lang waren wir getroffen davon, dann nahmen wir uns zusammen und ließen es hinter uns. Cousine Sophia sah schwarz wie immer. Sie kam herüber und stöhnte, die Briten würden aber auch überall verlieren.
‚Sie sind gute Verlierer‘, sagte Susan grimmig. ‚Wenn sie was verloren haben, dann suchen sie so lange herum, bis sie es wiederfinden! Wie dem auch sei, mein König und mein Land brauchen mich jetzt, um Kartoffelsetzlinge für den Hinterhof abzuschneiden, also hol dir ein Messer und hilf mir, Sophia Crawford. Ich werde dich ablenken und dich davor bewahren, dich um einen Feldzug zu sorgen, der dich nichts angeht.‘