Meditation in der Anthroposophie
Verlag Freies Geistesleben
Inhalt
Zum Geleit
Von Johannes Kiersch
Vorwort
DER ZUSAMMENHANG
«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht»
Anthroposophische Meditation: Die denkende Individualität als Ausgangspunkt
«Die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen» Der Geheimwissenschaft im Umriß zum Hundertsten
IM MITTELPUNKT: DIE ROSENKREUZ-MEDITATION
Die Rosenkreuz-Meditation von Rudolf Steiner
Von Meditation zu geistiger Forschung
Die 12 Nebenübungen in der Geheimwissenschaft Selbsterziehung und Moral
IN DER MEDITATIVEN WERKSTATT
Vom lebendigen Denken und vom leeren Bewusstsein
«Alles in der Welt ist bewusst» Anthroposophische Meditation als Weg zur Erforschung des Bewusstseins
Wirkungen anthroposophischer Meditation auf Konstitution und Gesundheit
AUSBLICKE IM WERK RUDOLF STEINERS
Vom Lichtseelenprozess – Zwischen Wahrnehmung und Denken. Erkenntniswissenschaft, Goetheanismus und Meditation
Vom Verstehen zum Schauen. Zum Unterschied zwischen Anthroposophischer Gesellschaft und Freier Hochschule für Geisteswissenschaft
Beobachtungen zum Verhältnis zwischen dem anthroposophischen Schulungsweg und dem Übungsweg der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Zugleich eine kleine Geschichte der Meditation bei Rudolf Steiner
Erstveröffentlichungen
ANHANG
zum Download auf der Website des Verlags: www.geistesleben.de/Dehmelt
– Literatur zur anthroposophischen Meditation
– Einführende Texte
– Ausgewählte Meditationen und Übungen im Wortlaut Rudolf Steiners
– Fenchel meditieren – Ein Beispiel geistiger Forschung
– Literatur zur anthroposophischen Meditation
– Vorstellungen oder Bildebewegungen?
Eine kommentierte Bibliographie zu Rudolf Steiners Buch Die Geheimwissenschaft im Umriß
– Zwischen Herzdenken und Emotionaler Intelligenz.
Eine kommentierte Bibliographie zu den sechs «klassischen» Nebenübungen Rudolf Steiners
Zum Geleit
Von Johannes Kiersch
In seiner Autobiografie Mein Lebensgang berichtet Rudolf Steiner, wie er gegen Ende seiner Weimarer Zeit, Jahre nach dem Erscheinen der Philosophie der Freiheit, die Kunst der anthroposophischen Meditation entdeckt hat. «Das errungene Seelenleben», schreibt er, «brauchte die Meditation, wie der Organismus auf einer gewissen Stufe seiner Entwickelung die Lungenatmung braucht.»1 Was sagt dieser Vergleich? Ein Fisch atmet frische Luft, indem er kontinuierlich sauerstoffgesättigtes Wasser durch Mund und Kiemen strömen lässt. Ein Frosch, sobald er sein jugendliches Fischdasein aufgibt und an Land geht, unterbricht diesen Strom durch den Wechsel von Ein- und Ausatmung mit Hilfe seiner neu gebildeten Lunge. Das Innehalten dabei rhythmisiert diesen Vorgang. Es bildet damit die physische Grundlage für das Gefühlsleben aller höheren Tiere und des Menschen, schließlich auch für den Durchbruch zum Selbstbewusstsein und zur Freiheit.
Wir dürfen uns vorstellen, wie Steiner nach jener großen Entdeckung der Meditation, mitten im Trubel der Boom-Stadt Berlin, seine lockere Literatenexistenz in stillen Stunden beharrlichen Suchens und Übens grundlegend verwandelt hat und mit bewundernswerter Selbstdisziplin zum ernsten Geistesforscher wird. Die Aufsatzreihen Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? und Die Stufen der höheren Erkenntnis bilden ab, was sich – zunächst noch im Rahmen der Blavatsky-Theosophie, aber sehr schnell unabhängig davon – bei diesen ersten Versuchen ereignet hat. Im Jahre 1911 folgt beim Internationalen Philosophenkongress in Bologna eine präzise psychologische Begründung des inzwischen Erreichten. Im Jahre 1917 dann wird greifbar, was alle anthroposophischen Übungen, psychologisch gesehen, gemeinsam haben: das besinnliche, geduldige Verweilen an den Grenzen des Erkennens, wo die bloße Gedankenlogik hilflos stecken bleibt. Steiner gelangt jetzt zum Begriff der Grenzvorstellung, die sich dagegen wehrt, in die Welt der festen Dinge, unser gewohntes Gegenstandsbewusstsein, hineingezwungen und damit «herabgelähmt» zu werden. «Aus dem besonnenen Erleben», schreibt er, «das [die Seele] mit den verschiedenen Grenzvorstellungen haben kann, besondert sich ihr die allgemeine Empfindung einer geistigen Welt zu einem mannigfaltigen Wahrnehmen derselben.»2 Das besonnene Erleben mit Grenzvorstellungen wird damit zum elementaren Erfahrungsgrund, von dem alle anthroposophischen Übungswege ausgehen. Und von diesem Erfahrungsgrund handelt das vorliegende Buch.
Von Anfang an ist dabei klar, worin Steiner den höheren Zweck anthroposophischer Übungen sieht: nicht in einer Hilfe für persönliches Wohlbefinden, wie so viele der modischen Meditationslehrer unserer Gegenwart sie versprechen, sondern als selbstlosen Dienst an der Evolution des Menschheitsbewusstseins. Der Journalist Wolfgang Müller hat mit einem mutigen Aphorismus in seiner Zumutung Anthroposophie zum Ausdruck gebracht, worum es dem übenden Anthroposophen geht: «Ein Zeichen für die ernste Größe der Anthroposophie kann man auch darin erblicken, dass nicht wenige Menschen in diesen hochmütigen Zeiten ihr dienen wollen; also nicht nur eine Erkenntniseitelkeit in ihr ausleben (obwohl es das natürlich auch gibt) oder nicht nur eine letztlich austauschbare Lebenszuflucht in ihr suchen (dies auch), sondern sich frei und intelligent in etwas Größeres einordnen, dessen Weltbedeutung sie zu erkennen glauben.»3 Gewiss war Steiner auch als Lebensberater im üblichen Sinne tätig, etwa in den Vorträgen über Die praktische Ausbildung des Denkens4 oder Nervosität und Ichheit,5 oder mit den «Nebenübungen» in der Geheimwissenschaft im Umriß.6 Im Grunde aber will er immer dazu anregen, die Realität der geistigen Welt zu entdecken und mit den Wesen dieser Welt in eine produktive Zusammenarbeit zu kommen. Er greift dabei die Hierarchienlehre des Dionysius Areopagita auf, des großen Inspirators der abendländischen Kultur des Mittelalters. Wie weit er dabei ging, zeigt besonders schön der erste Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde, der den Kreis eines Lehrerkollegiums mit den Geistern der dritten Hierarchie in einen Arbeitszusammenhang bringen wollte.7 Wir erschrecken heute, wenn wir uns eingestehen müssen, was Steiner von ernsthaft praktizierenden Anthroposophen gefordert hat. Und in den Lehrstunden der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, dem wichtigsten Vermächtnis Rudolf Steiners, treten noch weitere gewaltige Dimensionen der neuen Wissenschaft vom Geist in Erscheinung, die unser beschränktes Begriffsvermögen herausfordern.
Anna-Katharina Dehmelt ist in der anthroposophischen Szene seit Jahren als kompetente Expertin für all diese Dinge bekannt. Der vorliegende Sammelband bringt Beiträge, die im Zusammenhang mit ihrer Unterrichts- und Forschungstätigkeit entstanden sind. Was sie darin vorträgt, beleuchtet das unübersichtliche Gelände der Äußerungen Rudolf Steiners über anthroposophisches Meditieren von den verschiedensten Seiten her, klärt Missverständnisse und konturiert das Prinzipielle. In der von 2003 bis 2010 bestehenden ‹Firma für Anthroposophie› und seit 2012 im von ihr begründeten ‹Institut für anthroposophische Meditation› hat sie sich mit befreundeten Forschern ausgetauscht und auf der Basis von Anregungen Steiners Erfahrungen gewonnen, von denen bisher nirgendwo die Rede war. Wir Anthroposophen sind ja heute wie Tiere im Zoo von Zuschauern umgeben, die an allem herumschnuppern, was wir tun, aber nicht selber zupacken können oder wollen. Die wenigen, die sich zum Mittun aufraffen, werden in den rückhaltlosen Berichten Dehmelts über ihren eigenen Weg zur lebenspraktischen Anthroposophie hilfreiche Orientierungen finden. So etwa den Ratschlag, auf die «kleinen Wunder» im eigenen Leben zu achten und dadurch nicht in eine «Unterhaltungs-» oder eine «Trost-Anthroposophie» abzudriften oder gar in eine «Privat-Anthroposophie mit Fanatismus und Dogmatismus».
Überall in diesem Buch merkt man, wie sehr die Autorin davon profitiert hat, dass sie sich unvoreingenommen für andere Milieus und Übungswege interessiert hat. Das Eigene wird klarer und verbindlicher, wenn man andere spirituelle Strömungen nicht ignoriert oder abwertet, sondern ihre Andersartigkeit wohlwollend zu verstehen sucht. Dehmelt praktiziert dieses Wohlwollen auch in ihren Berichten über die anthroposophische Sekundärliteratur zum Thema.8 Wie schön wäre es, wenn wir alle so souverän die Arbeitsergebnisse unserer Geistesfreunde nüchtern referieren und würdigen könnten, auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind!
Dehmelts Betrachtungen sind schließlich noch aus einem ganz anderen Grunde aktuell. Nach mehr als hundert Jahren erleben wir gegenwärtig – neben all den Nörgeleien und hässlichen Verleumdungen, die wir als Anthroposophen auszuhalten haben – eine erste Welle seriöser Steiner-Forschung. Ernstzunehmende Fachleute werden auf das erstaunliche Phänomen des Lebens, des Werkes und der Wirkungen des Begründers der Anthroposophie aufmerksam und bemühen sich redlich darum, zu verstehen, was sie da vorfinden. Ihnen zeigt Dehmelt, welch einzigartiges Kunstwerk beispielsweise der exemplarische Gedankengang darstellt, mit dem Steiner in seiner großen Kosmologie, der Geheimwissenschaft im Umriß, die Eigenart anthroposophischer Meditation erfahrbar macht: den Aufbau des Symbolbildes vom schwarzen Kreuz mit den sieben roten Rosen und das besinnliche Umgehen damit. Oder die Logik des Aufstiegs vom gewöhnlichen Gegenstandsbewusstsein, in das wir ohne unser Zutun eingesponnen sind, zu den drei höheren Erkenntnisarten, denen wir uns stufenweise nähern können. Oder das wissenschaftstheoretische Potential des Buches Von Seelenrätseln, mit dem Steiner im Krisenjahr 1917 die Praxisbewegungen eingeleitet hat, für die er heute bewundert wird. Produktive Gespräche zwischen Forschern, die sich für so etwas ernsthaft interessieren, werden in der vorliegenden Aufsatzsammlung ihre Schwerpunkte finden.
1 Rudolf Steiner: Mein Lebensgang (GA 28), Dornach 1962, S. 323.
2 Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln (GA 21), Dornach 1976, S. 22.
3 Wolfgang Müller: Zumutung Anthroposophie. Frankfurt am Main 2021, S. 27.
4 Vortrag vom 11. Februar 1909 in Rudolf Steiner: Wo und wie findet man den Geist? (GA 37), Dornach 1984.
5 Vortrag vom 11. Januar 1912 in Rudolf Steiner: Erfahrungen des Übersinnlichen (GA 143), Dornach 1994.
6 Vgl. die eingehende Darstellung in diesem Buch auf S. 137ff.
7 Vortrag vom 21. August 1919 in ders.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293), Dornach 1992.
8 Siehe den als Download erhältlichen Anhang zu diesem Buch unter www.geistesleben.de/Dehmelt
Vorwort
Kreuz und Rose: zusammen werden sie zum Rosenkreuz. Es ist eines der wichtigsten Symbole in der Anthroposophie und steht für die Entwicklungsfähigkeit des Menschen und die Verwandlung und Spiritualisierung von Welt und Leben. Rudolf Steiner hat das Rosenkreuz zu einer Meditation geformt, mit der man sich in die Anthroposophie von innen einleben kann; sie ist wie der Zipfel, an dem die ganze Anthroposophie sich von außen nach innen wendet.
In der Meditation des Rosenkreuzes, wie sie Rudolf Steiner in der Geheimwissenschaft im Umriß vorstellt, steckt ein klarer methodischer Weg, der sich auf die aktive Entwicklung des Bewusstseins des Meditierenden richtet. Damit bleiben Methode und Bewusstseinsentwicklung rational fassbar und somit auch anschlussfähig an allgemeinere Diskurse. Die Verwandlung des Bewusstseins und die Übertragung des in anderen Bewusstseinszuständen Erfahrenen ins gewöhnliche Bewusstsein sind der Schwerpunkt rosenkreuzerischen Übens; weniger interessiert im Folgenden das Herbeiführen von passiver Hellsichtigkeit.
Daneben hat die Rosenkreuz-Meditation eine Beziehung zu der spirituellen Strömung der Rosenkreuzer, über die Rudolf Steiner zeitweise ausführlich gesprochen hat. In den in diesem Buch versammelten Aufsätzen steht jedoch die Meditation selbst im Zentrum, die auch ganz unabhängig von dem überlieferten Rosenkreuzertum verstanden und meditiert werden kann.
Ich habe diese Meditation 1983 im Anthroposophischen Studienseminar bei Frank und Brigitte Teichmann kennengelernt. Wir haben die Anleitung zu dieser Meditation, die in der Geheimwissenschaft im Umriß schriftlich vorliegt, studiert wie auch andere Texte Rudolf Steiners. Davon, dass man diese Meditation tatsächlich durchführen könne, war, den damaligen Usancen gemäß, keine Rede. Es war in der anthroposophischen Szene völlig unüblich, über Meditation und geistige Forschung zu sprechen, und es gab auch nur ganz wenige Bücher zu diesem Thema. Das hat sich erst in den folgenden Jahrzehnten grundlegend verändert.
Die Rosenkreuz-Meditation ist dann zum Zentrum im Aufbau meines meditativen Lebens geworden, und ich habe mich ihr durch Jahrzehnte hindurch fast täglich gewidmet. Alles, was ich seither über anthroposophische Meditation und das sich daraus ergebende Verständnis anderer anthroposophischer Aspekte veröffentlicht habe, entspringt letztlich diesem Umgang mit Steiners Rosenkreuz-Meditation.
Dazu gehören die ersten Seminare mit dieser Meditation im Frankfurter und im Stuttgarter Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft noch in den neunziger Jahren, intensiviert dann im neuen Jahrtausend. Dazu gehört die Beobachtung, dass der komplexe Aufbau der Meditation und das Meditieren selbst für viele Menschen zu anspruchsvoll ist, weshalb ich mir Gedanken gemacht habe, wie man vom heutigen Alltagsbewusstsein ein Brücke bauen kann zum Ausbilden grundlegender geistiger Fähigkeiten, die für anthroposophisches Meditieren nützlich sind. Und dazu gehört die Entwicklung eines geistigen Forschungsweges, der dem Aufbau der Rosenkreuz-Meditation in der Geheimwissenschaft entspricht, und dessen Anwendung auf verschiedene Gebiete. Davon zeugen insbesondere die beiden Aufsätze ‹Die Rosenkreuz-Meditation› und ‹Von Meditation zu geistiger Forschung› sowie das ausführliche Beispiel ‹Fenchel meditieren› im Anhang. Auch der Geheimwissenschaft im Umriß, die den unmittelbaren Kontext für die Rosenkreuz-Meditation bildet und deren Formulierung des Schulungsweges mich am meisten geprägt hat, ist ein Aufsatz gewidmet.
Von da aus weitet sich der Blick auf den anthroposophischen Schulungsweg insgesamt: zunächst zu den «12 Nebenübungen» der Geheimwissenschaft, später dann zum «Lichtseelenprozess». Einen Überblick über anthroposophisches Meditieren darüber hinaus findet man in ‹Die denkende Individualität als Ausgangspunkt anthroposophischer Meditation›.
Drei Aufsätze geben einen Einblick in die meditative Werkstatt: in das Erüben eines leeren Bewusstseins, in das Erforschen des Bewusstseins selbst und in die Wirkungen anthroposophischer Meditation auf Konstitution und Gesundheit. Das Buch endet mit zwei Untersuchungen zum Verhältnis zwischen anthroposophischer Schulung im allgemeinen und dem Übungsweg der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, wobei die zweite zugleich eine kleine Genese anthroposophischen Meditierens bei Rudolf Steiner enthält. Am Beginn des Buches steht eine Skizze meines Verhältnisses zur Anthroposophie im Allgemeinen.
Die Aufsätze sind in den Jahren 2009 bis 2019 unabhängig voneinander entstanden – was einige kleinere Überschneidungen bedingt – und können auch unabhängig voneinander gelesen werden. Sie wurden für die Buchausgabe geringfügig bearbeitet, verändert oder aktualisiert. Die Reihenfolge ist ein Vorschlag für eine sinnvoll geordnete Lektüre aller Aufsätze.
Die Lektüre ist aber keine ganz leichte Kost. Sie vermittelt natürlich Information, aber die Texte wollen auch etwas verstehbar machen, und dafür braucht es beim Lesen das Mitdenken. Zudem sind sie keine Einführung in die anthroposophische Meditation oder die Anthroposophie im strengen Sinne; eher sind es Reflektionen, Vertiefungen und weiterführende Gedanken für Menschen, denen beides zumindest in Grundzügen schon bekannt ist. Wer ganz neu an dieses Feld herantritt, für den finden sich einige einführende Texte zu den in diesem Kontext wichtigsten Grundbegriffen im Anhang, der als Download auf der Website des Verlags Freies Geistesleben bereit steht.1 Sie sind zumeist der Website des ‹Instituts für anthroposophische Meditation› entnommen, ebenso wie die ausführliche Literaturübersicht zur anthroposophischen Meditation. Auch die in diesem Buch besprochenen Meditationen stehen dort zum Download bereit.
Eine wichtige Station bei der Entstehung der in diesem Buch versammelten Aufsätze war die von 2003 bis 2010 bestehende ‹Firma für Anthroposophie›, die neue Wege im Umgang mit Anthroposophie entwickelte. Gemeinsam mit den Kollegen Sebastian Gronbach, Jelle van der Meulen, Alexander Schaumann und Michael Schmock haben wir damals – 100 Jahre, nachdem Rudolf Steiner 1904 Leiter einer Esoterischen Schule und damit Lehrer für Meditation und geistiges Forschen wurde – einen wichtigen Schritt von Meditation zu geistiger Forschung gemacht. Außerdem gab es in diesen Jahren ein erstes Kolloquium am Goetheanum, das ich zusammen mit Heinz Zimmermann durchgeführt habe und in dem wir den Austausch über meditative Erfahrungen regelrecht geübt haben.
Es kam in diesen Jahren auch sonst das Meditieren sehr in Mode, man denke etwa an die Achtsamkeitsbewegung, die Zen-Meditation mit ihren Meditationshäusern oder das christliche Meditieren am Benediktushof des Willigis Jäger. Dort habe ich mich überall umgesehen, und mir wurde gerade an der Unterschiedlichkeit deutlich, was das Spezifische der anthroposophischen Meditation ist.
2012 habe ich dann das ‹Institut für anthroposophische Meditation› gegründet, das sich zur Aufgabe gesetzt hat, anthroposophische Meditation auch in der nicht-anthroposophischen, aber spirituell interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Das ist ein Stück weit auch gelungen, ein Höhepunkt war die Anleitung einer anthroposophischen Meditation auf dem buddhistisch orientieren Kongress ‹Meditation und Wissenschaft› 2019 in Berlin; seither jedoch scheint diesbezüglich eine vorläufige Grenze erreicht zu sein. Innerhalb der anthroposophischen Szene ist das Meditieren, auch als gemeinsame Praxis, indes so selbstverständlich geworden, wie wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum für möglich gehalten hätten. Das gemeinsame Gespräch im Rahmen des ‹Instituts für anthroposophische Meditation› gibt es bis heute. Stellvertretend für die ganze Gruppe seien hier die bereits seit der Gründung teilnehmenden Persönlichkeiten Corinna Gleide, Christoph Hueck, Andreas Neider, Dorian Schmidt und Markus Buchmann genannt.
Außerdem bin ich durch Karl-Martin Dietz und Thomas Kracht verschiedentlich zu Kolloquien im Rahmen des ‹Forum Zeitfragen› der Anthroposophischen Gesellschaft und des Hardenberg Instituts eingeladen worden, wo ich neue Beobachtungen und Forschungsergebnisse vorstellen konnte. Aus diesen Zusammenhängen kenne ich auch Johannes Kiersch, der so freundlich war, ein Geleitwort für dieses Buch beizusteuern. Stephan Stockmar und Lydia Fechner von der Zeitschrift die Drei waren dort oft dabei und haben mich immer wieder aufgefordert und unterstützt, meine Gedanken weiter auszuarbeiten und zu Papier zu bringen.
2016 fand auf Anregung von Stephan Schmidt-Troschke von ‹Gesundheit aktiv› der Kongress ‹Meditation und Gesundheit› in Berlin statt, den wir zusammen mit Rudi Ballreich vorbereitet haben. Anknüpfend daran gab es am Alanus Werkhaus in zwei Durchgängen eine Fortbildung für Menschen, die andere meditativ anleiten möchten. In der Leitung dieser Fortbildungen, die sich über insgesamt fünf Jahre mit 25 Wochenenden erstreckte, habe ich zusammen mit den Teilnehmenden das ganze Feld anthroposophischer Meditation noch einmal sehr vertiefen können.
Mit meinem Einstieg in die Redaktion der Monats-Zeitschrift Info3 hat sich nun mein Lebensschwerpunkt nochmals verlagert und das Engagement für die anthroposophische Meditation ist in den Hintergrund getreten. Dass Claudius Weise vom Verlag Freies Geistesleben die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und mir die Möglichkeit gegeben hat, was ich zur anthroposophischen Meditation zu Papier gebracht habe, zwischen zwei Buchdeckel zu versetzen, freut mich sehr.
Allen Genannten danke ich sehr herzlich – ohne Euch wären die Aufsätze und damit auch dieses Buch nicht zustande gekommen!
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich Anregung und Inspiration, sei es für das eigene Meditieren oder für das Verständnis von Anthroposophie, und ich hoffe, dass die Aufsätze seit der Zeit ihrer Entstehung nichts davon verloren haben.
Der Zusammenhang
«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht»
2011 wurde der 150. Geburtstag von Rudolf Steiner gefeiert – die Beiträge in großen Zeitungen erweckten damals den Eindruck, dass die Anthroposophie im öffentlichen Leben der Gegenwart angekommen ist. Die Zeitschrift die Drei veröffentlichte damals unter der Überschrift ‹Treffpunkt Steiner› eine Serie vieler verschiedener Zugangsweisen zu Persönlichkeit und Werk Rudolf Steiners – eine Gelegenheit, sich den eigenen biographischen Zugang zu vergegenwärtigen.
«Denken 1979/80» habe ich vorne in mein Exemplar von Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886) geschrieben, und dieser Eintrag stammt aus der Zeit des ersten anthroposophischen Lesekreises, an dem ich teilnahm, ganz privat, mit Musikerfreunden und unter Anleitung eines etwas älteren ehemaligen Waldorfschülers. Mit Philosophie und Erkenntnistheorie hatte ich, die ich gerade das Abitur hinter mich gebracht hatte, bisher nicht viel zu tun gehabt, aber mit Denken schon. Denken war eine gern ausgeübte Beschäftigung, nicht nur in den Leistungskursen Mathematik und Latein, sondern auch in Gesprächen über den Sinn des Lebens, ein eventuelles Leben nach dem Tod und die damals stets gegenwärtige Frage, ob die Schulkameraden den Kriegsdienst verweigern sollten oder nicht.
Vor diesem Hintergrund war ich einigermaßen vorbereitet, Steiners Gedankengänge zu verstehen und ihnen selber denkend zu folgen, bis dahin, wo das Denken in seiner auf sich selbst beruhenden Natur als einheitlicher «Seinsgrund»1 der Welt erkannt wird. Der ist mannigfaltig ausgegossen und differenziert in den einzelnen Bewusstseinen und den einzelnen Welttatsachen, aber das Differenzierte ist – einer Formulierung in den Anthroposophischen Leitsätzen (1924) folgend – als «Geistiges im Menschenwesen» und als «Geistiges im Weltenall»2 doch mit diesem einheitlichen Seinsgrund verbunden, enthält ihn, ist seiner inne. Ich konnte mitvollziehen und ahnend erleben, wie ich im Denken selber tätig bin und zugleich etwas Objektives zur Erscheinung bringe und wie dieses tätige zur Erscheinung-Bringen etwas ist, das sich selber trägt und auf sich selbst beruht, in meinem Denken als auf sich selbst beruhender Seinsgrund anwesend ist.
Ich hätte diese Erfahrung damals wohl nicht genau beschreiben können, aber sie nahm in diesem ersten Lesekreis ihren Anfang, sich bis heute erneuernd und vertiefend. Es war die erste ahnungsweise Erfahrung dessen, wonach, wie ich heute weiß, alle spirituellen Strömungen suchen und was als Absolutes, als Geist, als Gott, als Weltengrund, Brahman oder als Selbst bezeichnet wird.
Der in den Grundlinien gefundene Zugang zum Seinsgrund führt – auch das war mir damals in seiner Bedeutung nur anfänglich klar – durch das Denken, durch das, was in mir in seiner letzten Äußerungsform als Denken erscheint und was zurückgeführt werden kann zu der Kraft, die nicht nur in mir als Denken zur Erscheinung kommt, sondern auch die Welttatsachen schöpferisch zur Erscheinung gebracht hat und bringt. Dass dieser Grund durch das menschliche Denken – wenn es sich denn entsprechend vertieft – zugänglich ist, charakterisiert die ganz spezifische Geistigkeit, die Rudolf Steiner in der Anthroposophie zum Ausdruck gebracht hat, zutreffend. Ich fühlte mich dadurch mit einem Grund verbunden, der sich selbst trägt, der nicht mehr hinterfragbar ist, der in seiner tiefsten, absoluten Natur das Wesen und der Sinn der Welt ist.
Es war diese Erfahrung, die die achtziger Jahre hindurch meinen Umgang mit Rudolf Steiners Werk bestimmte, im Anthroposophischen Studienseminar bei Frank Teichmann, in der anthroposophischen Studentenarbeit, im Frankfurter Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft. Es ging mir darum, die Denkbewegungen im Hinblick auf die zentrale Erfahrung des Seinsgrundes immer aktiver und bewusster zu vollziehen – hier lagen auch meine ersten Erfahrungen mit anthroposophischer Meditation. Die Inhalte der Anthroposophie spielten demgegenüber für mich zunächst gar keine große Rolle, wenn auch die anthroposophischen Grundbegriffe wie die Wesensglieder, die Kulturepochen, Mysteriengeschichte und Weltentwicklung und der Reinkarnationsgedanke doch hängenblieben, sich quasi absetzten durch immer erneutes Durchdenken. Sie setzten sich allerdings weniger als Gewusstes ab denn als Struktur, als Organ, bereit zum Wahrnehmen und Ordnen geistiger Wirklichkeit, bereit zum Auffinden des Seinsgrundes in der Welt. Zunächst äußerten sie sich wie ein noch ganz allgemeiner Sinn für Sinn, für Stimmigkeit, für Geistgemäßheit.
Das Ende des 20. Jahrhunderts
Erst, als ich 1989 für das Arbeitszentrum Frankfurt der Anthroposophischen Gesellschaft die Aufgabe übernahm, herauszufinden, was Rudolf Steiner alles über das Ende des 20. Jahrhunderts gesagt hatte, rückten für mich die Inhalte im Werk Rudolf Steiners in den Vordergrund. Auf der Suche, die mit dem Jahrhundertende verbundenen inhaltlichen Motive zu verfolgen und zu verstehen, musste ich sehr viel lesen, insbesondere Vorträge von Rudolf Steiner. Mit dem Mitdenken und Verdauen kam ich kaum nach. Vom Treffen auf den Seinsgrund, der all das Dämonische, all die geschichtlichen Verwerfungen und ihre karmischen Hintergründe, die Gegenbilder und die sich daraus ergebenden Aufgaben zusammengehalten und ihnen Sinn verliehen hätte, konnte keine Rede sein. Stattdessen machte ich die Erfahrung, dass das Immer-weiter- und Immer-mehr-Lesen durchaus Unterhaltungswert haben, spannend sein, fast einen Rausch auslösen konnte, wenn ich nur das Fragen und Verstehenwollen ausschaltete. Ich machte aber auch die Erfahrung, dass ich weiterlas in der Hoffnung, dass irgendwo die Antworten stünden, dass mir doch gesagt würde, was genau am Jahrhundertende geschehen werde und wie ich mich dagegen wappnen könne. Und ich machte, da ich ja nun doch so viel gelesen hatte, auch die Erfahrung, dass ich nun begann, mein eigenes Verhalten, meine Ansprüche, meine Ziele und mein Scheitern mit der Anthroposophie zu rechtfertigen. Manchmal meinte ich nun zu wissen, wie es sei und was zu geschehen hätte, und der Fanatismus und Dogmatismus, mit dem ich dies zu vertreten begann, gesellte sich als drittes Gegenbild zum Unterhaltungswert der Anthroposophie und zu der Hoffnung, sie würde mir eigene Einsicht und Verantwortung abnehmen und Trost und Erquickung spenden.
Unterhaltungs-Anthroposophie, Trost-Anthroposophie, Privatanthroposophie mit ihrem Fanatismus und Dogmatismus – in diesen dreien spürte ich, dass sie meine seelische Gesundheit ankratzten. Die Gegenbilder des Geistigen, deren Eigendynamik am Jahrhundertende Steiner so eindrücklich beschrieb, hatten mich von dieser Seite aus kräftig am Wickel.
«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Es war tatsächlich die Stimme Rudolf Steiners in dem so zentralen Vortrag zum Jahrhundertende über die Tätigkeit der Engel im Astralleib3, die mich hinaushebelte aus der Verstrickung in die Gegenbilder. So vieles wurde ausgebreitet in diesem Vortrag, so viel Bedrohliches, und so gewaltige, das Fassungsvermögen übersteigende Ansprüche gestellt – und dann: «Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Als riefe Steiner selbst mir das zu, und er dachte dabei sicherlich nicht an die gedächtnismäßige Aneignung der geisteswissenschaftlichen Begriffe und Ideen, sondern an die aktiv-denkerische Bildung innerer geistgemäßer Unterscheidungen und Zusammenhänge. Rudolf Steiner ermutigte mich, im Hinblick auf ein richtig bewusstes Verstehen seines Werkes den eigenen Fragen unverdrossen zu folgen und mit den gebildeten Begriffen wach und souverän zu leben im Sog der Gegenbilder, überhaupt in der Bewegung des Geistes, nicht nur am Jahrhundertende.
Das Zweite, worauf Rudolf Steiner mich aufmerksam machte, war die Übung am Ende dieses Vortrages, eine einfache Karmaübung: Achtet auf das, was wie durch ein Wunder in euer Leben tritt, was bei nur winzigsten Veränderungen nicht hätte stattfinden können, und auf das, was beinahe geschehen wäre, aber verhindert wurde durch winzigste Änderungen der Rahmenbedingungen. Achtet auf den verpassten Zug, den verhinderten Unfall, auf die überraschende Wiederbegegung, auf den kleinen Fingerzeig. Achtet auf das fortwährende Wunder, den Wandel in eurem Leben!
Und als Drittes wurde ich gefragt, was denn nun das Jahrhundertende eigentlich sei? Wirklich nur eine profane Zeitangabe? Sollte Steiner tatsächlich Zukunftsvorhersagen à la Nostradamus gemacht haben? War das Jahrhundertende nicht auch ein Symbol für krisenbelastete Schwellensituationen, wie die Zeitrechnung sie wohl am Jahrhundertende hervorbringt, die ihrem Wesen nach aber weit darüber hinausreichen?
Diese Hinweise Steiners auf die denkaktive Begriffsbildung, auf Übung und Schulung und auf die dadurch ermöglichte geistige Forschung eröffneten mir die Perspektive, mich aus der Klammer der Gegenbilder zu lösen. Das hatte etwas Befreiendes. Ich erlebte darin eine Umstülpung von der Inhaltsfülle der Anthroposophie mit all ihren Gefahren hin zu eigener innerer, auf Verwandlung und Entwicklung gerichteter Arbeit. Aus der inhalts- und vergangenheitsorientierten Erkenntnisseite der Anthroposophie entbindet sich Moral – aber keine vorgegebene, sondern eine aus dem Verbundensein mit dem Seinsgrund, dem Geistigen in mir und in der Welt entstehende selbstverantwortete, mich und die Welt verwandelnde Moralität. Es entbindet sich Zukunft, aber keine vorgegebene, sondern eine, die aus geistesgegenwärtigem Tun entsteht. Das Jahrhundertende ist ein Bild für diese Umwendung.4
In dieser Umwendung trifft Anthroposophie mich an der Schwelle zwischen Bindung und Freiheit, zwischen fertiger und werdender Welt, zwischen gewordenem und sich entwickelndem Mensch-Sein. Und damit ging für mich auch eine verstärkte Pflege von Meditation und anthroposophischer Schulung einher.
In Rudolf Steiners Werkstatt
Im neuen Jahrhundert dann trat für mich die Frage in den Vordergrund: Wie hat Rudolf Steiner das eigentlich gemacht? Wie hat er ein Werk geschaffen, das die durch Denken gehende Erfahrung eines einheitlichen Seinsgrundes in mir und in der Welt ermöglicht und dabei zugleich individuelle Freiheit, Moral und Zukunft entbindet, ein Werk, das durch ebendiese Eigenart, Erkenntnis in Moral, Gegebenes in Werdendes zu verwandeln, ganze Lebensfelder inspiriert hat?
Ich entdeckte, wie Rudolf Steiner grundlegende Begriffe und Inhalte der Anthroposophie, zum Beispiel die höheren Erkenntnisstufen der Imagination, Inspiration oder Intuition oder die Meditation des Rosenkreuzes, keineswegs offenbart, auch selber nicht offenbart erhalten hat, sondern über Jahre entwickelt, erforscht, ausprobiert, verändert – man kann das in den Vorträgen, die der schriftlichen Niederlegung vorangehen, nachverfolgen. Dabei stützt er sich oft auf Inhalte, die er der esoterischen oder kulturellen Tradition entnommen hat – auch wenn er nur selten die Quellen angibt.5 Aber dann arbeitet er daran, den Inhalten eine auf sich selbst beruhende Gestalt zu geben, eine innere Stimmigkeit, die es unmöglich macht, aus der sozialen Dreigliederung eine Viergliederung oder aus den sieben Wesensgliedern des Menschen sechs oder acht zu machen. Die von Steiner geprägten geisteswissenschaftlichen Begriffe tragen sich gegenseitig, und dadurch kann durch sie alles Einzelne in Zusammenhang gebracht werden mit der Ganzheit des Wesens des Denkens, mit dem Seinsgrund.
Mir wurde klar, wie Rudolf Steiner nicht einfach über irgendetwas spricht, sondern wie er das, worüber er spricht, zugleich tut. So gibt es zum Beispiel einen Vortrag aus dem Jahre 1924 über den Prozess der Einweihung, der, ausgehend von Mythos und Bild über deren Verstehen und das Einleben in die Vorgänge, von denen Mythos und Bild reden, schließlich in die Erfahrung der zugrundeliegenden geistigen Realität mündet.6 Aber Steiner spricht nicht nur davon, sondern er baut den ganzen Vortrag nach diesen Stufen auf, er vollzieht diese Stufen im Sprechen von diesen Stufen fortwährend. Er tut, wovon er spricht, Inhalt und Form, Erkenntnis und Moral werden eins. Vielleicht kann man die besten Vorträge Steiners als Performances der Geistesgegenwärtigkeit bezeichnen, im Augenblick entstehende Realisationen eines anwesenden Geistes.
Ich begann zu verstehen, wie Steiner seiner Aufgabe, ja, seiner Mission, Welt und Mensch ausgehend vom Denken transparent zu machen für ihren sie verwandelnden geistigen Grund und Zusammenhang, treu geblieben ist von den Grundlinien am Anfang bis zu den Anthroposophischen Leitsätzen am Ende seines Werkes. Aber er hat dieser seiner Mission so unterschiedliche Ausdrucksformen gegeben, dass man sie kaum einem einzelnen Menschengeist zuordnen kann: die philosophische Form bis zur Jahrhundertwende, gipfelstürmend, anarchistisch, persönlich; die theosophische Form bis 1912, inhaltsstrotzend, allwissend, manchmal widersprüchlich, immer allerwichtigst; und dann der Parallelgang: in den internen Vorträgen behält er, den Bedürfnissen seiner Zuhörer entsprechend, viel Theosophisches bei, während er in den öffentlichen Schriften die Inhaltsfülle abstreift und sie ganz auf das Mitdenken-Wollen zuspitzt. 1917 erfindet er mit der Dreigliederung die Anthroposophie noch einmal neu – ein weiterer Versuch, den theosophischen Sockel abzustoßen. Immer nüchterner werden in seinen geschriebenen Werken die Ausdrucksformen für das, worum es ihm von Anfang an zu tun war: wie das Geistige im Menschenwesen und das Geistige im Weltenall sich im Hier und Jetzt treffen können.
Treffpunkt Steiner
Rudolf Steiner hat ein Werk hinterlassen, das sich, insbesondere in den geschriebenen Büchern, mit seiner in sich stimmigen, auf sich selbst beruhenden Begrifflichkeit selbst trägt – auch wenn die Denkaktivität, auf der diese Erfahrung ruht, heute vielleicht immer mehr quasi propädeutisch erst erübt werden muss. Es zeigt sich aber auch, dass viele Inhalte, vieles an dem Stoff, den Steiner insbesondere in den Vorträgen bearbeitet hat, zeitbedingt ist und der Kontext manchen Gedankens doch zu lange vergangen ist, um auf Dauer Bestand zu haben – auch wenn die künstlerische Gestalt, die Steiner seinen Denkbewegungen gab, anregend bleibt. Der Wandel in den Ausdrucksformen, in die Rudolf Steiner seine Mission gegossen hat, macht deutlich, wie vielfältig, wie reich der geistige Impuls ist, dem Steiner sein Werk gewidmet hat.
Rudolf Steiner selbst aber treffe ich heute da, wo ich mich übend und forschend selber auf die Suche mache nach der Verbindung zwischen dem Geistigen in mir und dem Geistigen in der Welt. Da begleitet er mich, wie ich ihn in den Spuren seines Werkes kennengelernt habe: diesen unermüdlichen Charakter, voller Phantasie, voller Schöpfergeist, voller Mut, voller Ernst. Er hält mir die Türe auf zum Seinsgrund, aus dem Welt und Mensch erschaffen sind, und er regt mich an, diesen Schöpfungsstrom fortzusetzen. Aber eintreten, den Schritt machen ins Freie, wo Erkenntnis sich umwendet in Moral und zur Grundlage schöpferischer Geistesgegenwärtigkeit wird, muss ich selbst.
1 Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Dornach 1987, S. 84.
2 Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze (GA 26), Dornach 1998, S. 14.
3 Vortrag vom 9. Oktober 1918; Was tut der Engel in unserem Astralleib? in Rudolf Steiner: Der Tod als Lebenswandlung (GA 182), Dornach 1996.
4 Aus dieser Beschäftigung mit dem Jahrhundertende ist meine nur noch antiquarisch erhältliche Zusammenstellung Das Ende des 20. Jahrhunderts im Werk Rudolf Steiners (Dürnau 1993) hervorgegangen sowie mein Aufsatz Vom Jahrtausendende und der Jahreszahl 1998 in Die Christengemeinschaft 1/1998.
5 Unzählige Beispiele finden sich in Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007.
6 Vortrag vom 19. April 1924 in Rudolf Steiner: Mysterienstätten des Mittelalters (GA 233a), Dornach 1991.
Anthroposophische Meditation: Die denkende Individualität als Ausgangspunkt
Im März 2015 fand in Stuttgart eine von der Agentur ‹Von Mensch zu Mensch› organisierte Tagung zum Thema «Meditation in Ost und West – Buddhismus und Anthroposophie im Gespräch» statt. Das war die erste große Meditationstagung, der sich in den Folgejahren weitere anschließen sollten. Die buddhistische Meditation wurde von dem Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Michael von Brück vertreten, mein anschließende Beitrag zur anthroposophischen Meditation ist hier wiedergegeben.
Die denkende Individualität als Ausgangspunkt für einen meditativen Weg – das dürfte für die meisten Menschen, die mit östlicher Meditation vertraut sind, eine Provokation sein. Geht es doch dort zumeist darum, wie wir auch eben von Michael von Brück gehört haben,1 der Welt ohne fertige Gedanken zu begegnen und sich weder mit dem eigenen Körper noch mit Erinnerungen, Wünschen oder Urteilen zu identifizieren, also das Denken und die Individualität gerade nicht als Ausgangspunkt einer inneren und meditativen Entwicklung zu setzen. Meine Aufgabe ist es, den anthroposophischen Ansatz der Meditation so darzustellen, dass der Unterschied zu östlichen Ansätzen deutlich wird. Und da scheinen mir Denken und Individualität bzw. das Ich die Besonderheiten anthroposophischer Meditation am prägnantesten zu bezeichnen – auch wenn wir sehen werden, dass diese Begriffe ihren Schwerpunkt gegenüber dem gewöhnlichen Gebrauch ein wenig verlagern.
Inhalt, Vollzug und Sinn
Beginnen wir mit einer «einfachen Tatsache», auf die Steiner hinweist und
«die nur in ihrer umfassenden Bedeutung gewürdigt werden muß. Es ist diejenige, daß es im ganzen Umfange der Sprache einen einzigen Namen gibt, der seiner Wesenheit nach sich von allen andern Namen unterscheidet. Dies ist eben der Name ‹Ich›. Jeden andern Namen kann dem Dinge oder Wesen, denen er zukommt, jeder Mensch geben. Das ‹Ich› als Bezeichnung für ein Wesen hat nur dann einen Sinn, wenn dieses Wesen sich diese Bezeichnung selbst beilegt. Niemals kann von außen an eines Menschen Ohr der Name ‹Ich› als seine Bezeichnung dringen; nur das Wesen selbst kann ihn auf sich anwenden. ‹Ich bin ein Ich nur für mich; für jeden andern bin ich ein Du; und jeder andere ist für mich ein Du.› Diese Tatsache ist der äußere Ausdruck einer tief bedeutsamen Wahrheit. Das eigentliche Wesen des ‹Ich› ist von allem Äußeren unabhängig; deshalb kann ihm sein Name auch von keinem Äußeren zugerufen werden.»2
Versuchen wir einmal, diese «einfache Tatsache» nicht nur als Information aufzunehmen, sondern sie zu realisieren.3 Wir können versuchen, diesen Moment des Ich-Sagens zu verlängern, zu verstärken und zu halten. Wir bemerken sofort, welche Kraft es braucht, nicht unmittelbar in irgendwelche Identifikationen – ich bin die und die, ich bin so und so, ich habe dies oder das – zurückzufallen. Die Kraft, die es braucht, um sich im Ich-Sagen zu halten, müssen wir erst trainieren, wie einen ungeübten Muskel. Dann bemerkt man, dass diese Kraft, die zu sich selbst Ich sagt, Bestand haben kann – freilich nur, so lange ich sie betätige – und dass sie so lange eine gänzlich von allen Identifikationen befreite Existenz hat. Es ist keine subjektive, persönliche Kraft, vielmehr geht sie jeder Identifikation voraus. Sie ist ihrer inneren Natur nach überpersönlich und in der Lage, Identifikation einzugehen. In der Regel finden wir sie als bereits identifizierte Kraft, als Ego in uns vor. Ihrem Wesen nach aber ist sie unabhängig von all diesen Identifikationen. Und doch hat sie eine eigene Existenz.
Aber eine solche Erfahrung braucht doch einige Übung. Denn wir müssen unser Bewusstsein aufrecht erhalten können, während es im Vollzug bleibt und sich nicht auf einen Inhalt fixieren kann. Unser gewöhnliches Bewusstsein ist vollständig inhaltlich fixiert, es bildet die Welt ab, urteilt, konzeptionalisiert und läuft in habitualisierten Bahnen ab – der dahinterstehende Vollzug bleibt in der Regel völlig unbeobachtet. Um den Weg vom Inhalt zum Vollzug zu finden, hat Steiner einige Übungen gegeben, die den Vollzug stärken, indem man sich auf einen ganz einfachen Inhalt richtet. Dafür möge man, so schlägt Steiner vor, für einige Minuten «seine Gedanken an einen alltäglichen Gegenstand (z.B. eine Stecknadel, einen Bleistift usw.) wenden und während dieser Zeit alle Gedanken ausschließen, welche nicht mit diesem Gegenstande zusammenhängen».4 Es kann auch ein Dreieck sein oder eine einfache Form, die sich verändert5 – wichtig ist, dass es sich um einen Inhalt handelt, den man selber völlig überschaut und der deshalb inhaltlich eigentlich nicht anspruchsvoll ist. Gerade deshalb braucht es Kraft, um ihn im Bewusstsein zu halten, und daran tritt der sonst immer unbeobachtet bleibende Vollzug in Aktion und ins Bewusstsein.
Was wir da tun, wenn wir uns für einige Minuten konzentriert mit einem Bleistift oder einem Dreieck beschäftigen, ist immer noch Denken – aber ein normalerweise im Hintergrund bleibender Aspekt:
«Da werden Sie allmählich gewahr werden, daß Denken heißt: geradeso innerlich etwas tun, wie etwas äußerlich tun heißt, seine Hand gebrauchen, seinen Arm gebrauchen. Wenn Sie Ihren Arm gebrauchen, das spüren Sie. Nun müssen Sie spüren lernen, was es heißt: die Gedankenkräfte gebrauchen.»6
Wir üben in solchen ersten Schritten, unser Denken nicht nach unserer Organisation, unseren Gewohnheiten und unseren Vorlieben einzusetzen, sondern es innerlich zu ergreifen, in dem wir es an einem Thema, einem Zusammenhang entlang führen, ganz unabhängig von uns selbst, von unserem Ego. Das Denken bildet dann Unterschiede und Zusammenhänge und verbindet sie zu sinnvollen Ganzheiten. Sonst könnten wir keinen Bleistift von einem Füller unterscheiden und sie beide als Schreibgeräte erkennen.
Indem wir uns also denkend an einem einfachen Sinnzusammenhang betätigen, erüben wir eine innere Aktivität, die so selbstbewusst ist wie der Moment des Ich-Sagens. So löst sich das Ich von seinen Identifikationen, aber nicht, indem es jeden Inhalt loslässt, sondern indem es sich mit innerer Aktivität auf einen überpersönlichen Sinnzusammenhang richtet.
Und in dieser Aktivität erfährt das Ich sich gleichermaßen Sinn-erfahrend und Sinn-stiftend. Das Ich ist «wie ein Tropfen aus dem Meere der alles durchdringenden Geistigkeit»7, schreibt Steiner. Hier könnten wir uns vielleicht sogar mit dem Buddhismus treffen. Aber für Steiner ist das Meer der alldurchdringenden Geistigkeit nicht leer, sondern – hier steht er wohl dem Hinduismus näher – innerlich sinnvoll, es besteht sozusagen ganz aus Sinn.
Das Ich hat teil an diesem umfassenden Sinn, gehört ihm selbst an. In dieser Perspektive kann der Tropfen des Ich nun das Meer möglicher Sinnstiftungen, das Steiner «Geistige Welt» nennt, zu erforschen beginnen. Und hier fängt die anthroposophische Meditation eigentlich erst an. Sie richtet sich auf das Einleben des Tropfens in das Meer. Sie richtet sich darauf, die Vereinzelung des Egos zu überwinden und das befreite Ich in der Welt des Sinnes zu beheimaten.8
Meditation
So gründet anthroposophische Meditation auf dem denkenden Ich, das sich meditierend in die Welt des Sinnes einzuüben und einzuleben vermag. Anthroposophische Meditation hat immer diesen Sinnbezug. Es geht aber nicht darum, Sinn zu konzeptionalisieren und theoretisieren, sondern Sinn gleichsam von innen zu erfahren, als innerste Natur der Welt und des Ich.
Es gibt gar nicht so viele Meditationen, die Steiner für die Öffentlichkeit bestimmt hat.9 Die wichtigsten, ausführlich und methodisch beschriebenen Anleitungen finden sich in der sogenannten Rosenkreuz-Meditation, in einer Meditation über die Prozesse des Sprießens und Welkens in der Natur oder in einer Meditation, die sich auch inhaltlich ganz in der Qualität des Denkens hält und die in der Formel «Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens» zusammengefasst wird.10 Im Grunde aber ist alles meditationsfähig, jeder Stein und jeder Baum, jede Frage und jedes Problem. Die Kunst ist, das Thema einer Meditation so in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken, dass Thema und meditierendes Ich konvergieren, zusammenfließen, in der Meditation ineinander übergehen. Auch hier also: das Gegenteil von Loslassen! Stattdessen aktives Ergreifen und bewusstes Versenken in einen Inhalt, um ihn von innen, seiner innersten Wesenheit nach, zu erfahren. Andernfalls steht man vor einem vielleicht interessanten Zusammenhang, der aber äußerlich bleibt, in den man nicht eindringen kann. Es geht aber gerade darum, sich ganz aus der inneren gereinigten Ich-Kraft heraus dem Meditationsinhalt quasi von innen zuzuwenden.
Um die entsprechenden inneren Handgriffe zu erüben, sind die von Steiner methodisch angeleiteten Meditationen außerordentlich fruchtbar. Man durchläuft dabei einen Prozess von der zunächst vor allem denkenden Aktivierung des Inhaltes über ein immer mehr auch das Fühlen einbeziehendes Ein- und Zulassen – wobei das Fühlen einen ähnlichen Reinigungsprozess durchläuft wie zuvor das Denken – bis hin zu einem willentlichen, existentiellen Ineinander-Aufgehen, einer Einheitserfahrung, die sich in der Sinn-Erfahrung auftut. Steiner beschreibt diese Schritte als verschiedene Bewusstseinsstufen, die er Imagination, Inspiration und Intuition nennt. Durch diese Stufen hindurch tritt die innere Aktivität zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer offenen Empfänglichkeit.11
In der Praxis haben für viele Anthroposophen solche Meditationen die größte Bedeutung, die nicht ein Symbol, einen Naturvorgang oder einen Gedanken zum Thema haben, sondern einen zumeist mehrzeiligen, sehr sorgfältig gestalteten und oft als Mantram bezeichneten Spruch.12 An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie ein solcher Spruch so gebaut sein kann, dass er nicht nur über etwas spricht, also einen Inhalt präsentiert, sondern ihn in seiner ganzen Gestalt vergegenwärtigt und tut, also vollzieht, wovon er spricht:
«Ecce homo
In dem Herzen webet Fühlen,
In dem Haupte leuchtet Denken,
In den Gliedern kraftet Wollen.
Webendes Leuchten,
Kraftendes Weben,
Leuchtendes Kraften:
Das ist – der Mensch.»13
Der Spruch hat sieben Zeilen, von denen die ersten drei und die zweiten drei jeweils parallel gebaut sind. Die ersten drei Zeilen beginnen jeweils mit einer Ortsangabe, die sich auf die menschliche Gestalt bezieht: Herz, Haupt, Glieder. Es sind Substantive, die einerseits uns selbst meinen, die aber auch gegenständlich und in bestimmter Weise gestaltet vorgestellt werden können. Die Zeilen enden mit substantivierten Verben: Fühlen, Denken und Wollen, zu denen wir nun nur noch einen inneren Zugang haben, die uns aber doch bekannt und sogar vertraut sind. Auch der Bezug vom Fühlen zum Herz, vom Denken zum Kopf und vom Wollen zu den Gliedern ist nachvollziehbar. Das dritte Element der ersten drei Zeilen sind die Verben: weben, leuchten, kraften. Sie weisen auf die Aktivität, die hinter den Seelentätigkeiten steht, die ihrerseits in der menschlichen Gestalt manifest werden. Diese Aktivitäten sind uns normalerweise gerade wegen ihres Vollzugscharakters ganz unbewusst.
Die zweiten drei Zeilen halten sich dann ganz in diesen Vollzügen und verweben jeweils zwei dieser Vollzüge miteinander: als Adjektiv und substantiviertes Verb. Und die letzte Zeile fasst dieses ganze Geschehen in einem einfachen Satz zusammen, der allerdings durch seine lateinische Form «Ecce homo» eine weitreichende Bedeutung bekommen hat: denn so hat Pontius Pilatus von Jesus Christus gesprochen.14
Ein solcher Spruch wird vom Objekt des Nachdenkens zur Meditation, indem wir zunächst innerlich ergreifen, wovon er spricht. Hierbei ist immer noch das Denken beteiligt: nicht aber, um über den Inhalt nachzudenken, sondern um ihn wach im Bewusstsein zu halten und zugleich aufmerksam zu sein auf die Qualität der inneren Kraft, die sich dabei entwickelt. Das ist vielleicht die größte Klippe der anthroposophischen Meditation: den Übergang zu finden vom Nachdenken zum innerlich wach beobachtenden Mittvollzug. Können wir also in der Zeile «In dem Haupte leuchtet Denken» das runde Haupt in seiner abgeschlossenen Gestalt vor uns sehen und dabei die nur innerlich zu erfahrende Qualität des Denkens im Blick haben, die sich in der Form des Hauptes einen Ausdruck schafft, ihrer inneren Natur nach aber Licht ist? Und können wir dann weiter diesen Zusammenhang einlassen in unser Fühlen, nicht nur wissend und vollziehend, sondern spürend und erlebend? Können wir schließlich das Bewusstsein aufrechterhalten, wenn wir uns diesem Zusammenhang völlig ausliefern und ihn wie von innen nicht nur erfahren, sondern sind? Wenn zwischen uns und dem ursprünglich ganz äußerlichen Inhalt kein Unterschied mehr besteht?
Das muss und kann geübt werden. Immer gesättigter wird dann die innere Erfahrung, immer triftiger, immer realer wird der in einem solchen Spruch eingeschlossene Sinn.
Diesseits-Spiritualität
Aber wird in einer solchen Meditation nicht einfach ein bestimmter Sinn vorgegeben? Die Frage ist berechtigt, und man kann sie eigentlich an alle von Steiner gegebenen Meditationen stellen. Und doch verfehlt sie das Wesen dessen, was hier mit «Sinn» oder von Steiner mit «Geistige Welt» gemeint ist. Der meditative Umgang mit einem solchen Spruch oder auch schon die Erfahrung, die man mit anhaltendem Bedenken eines Bleistiftes machen kann, führt nämlich zu der Einsicht, dass Sinn nicht fertig vorliegt, weder in Form von Begriffen noch in Form von Wesen, wie auch immer man diese bestimmen mag. Und die Welt liefert uns ihren Sinn schon gar nicht als fertigen mit. Wäre das der Fall, gäbe es keine Fragen und keine neuen Ideen. Sinn ist vielmehr ein Kontinuum, ein Möglichkeitsraum, der elastisch Sinnstiftungen ermöglicht, die sich im Laufe der Zeit, durch die Kulturen und durch Individuen wandeln können.
Dass wir so oft den Eindruck haben, wir würden den Sinn von etwas mit unseren gewöhnlichen fünf Sinnen einfach aufnehmen, liegt vor allem daran, dass wir die Basis der alltäglichen Sinnstiftungen bereits im Kindesalter anlegen und habitualisiert haben. Jedes Rätsel aber zeigt uns, dass Sinnstiftung immer Eigenleistung ist, und jeder Streit zeigt uns, dass Sinn ganz unterschiedlich und doch berechtigt beigelegt werden kann.
Es gehört zu den Grunddispositionen des Menschen, dass die Welt ihm den Sinn nicht mitgibt. Der Weltenlauf hält beim Menschen für einen Augenblick an und hält seinen Sinn zurück, damit der Mensch selbst zum Sinnsucher und Sinnstifter werden kann. Das begründet seine Freiheit und seine Würde.15
Diese anthropologische Grundkonstante des Menschen nimmt die Anthroposophie in sich auf. Zwar mag sie zunächst so aussehen, als wollte sie die Menschheit mit Sinnangeboten versorgen, die denen der Religionen nicht nachstehen. Aber diese Sinnangebote sind nicht dazu da, um einfach und als äußerliche übernommen zu werden, sondern sie sind Vollzüge in Sinnstiftung, deren übender Mitvollzug zu eigener Sinnstiftung befähigt.
Insofern und in der Terminologie, die Gernot Böhme eingeführt hat, handelt es sich bei der Anthroposophie nicht um eine aufsteigende Spiritualität, die sich von der Welt abwendet, sondern um eine absteigende Spiritualität, die sich der Welt zuwendet:16 um eine radikale Diesseits-Spiritualität. Sie reflektiert, dass aus dem Menschen im Laufe der Evolution ein autonomes Wesen geworden ist. Denn «der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen»17 – bis dahin, dass er den Menschen hervorgebracht hat und in ihm zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommt. Den Sinn, den die Welt hat, erhält sie heute nur noch dadurch, dass wir ihn ihr geben und sie entsprechend gestalten. Auf dieser Diesseitigkeit beruht auch die Praxiswirksamkeit der Anthroposophie in Pädagogik, Medizin oder Landwirtschaft.
Für diese Diesseits-Spiritualität braucht es eine denkende, fühlende und wollende Individualität. Denn nur das Individuum kann Sinn stiften. Ohne Sinn bleibt die Welt leer und das Leben in und mit ihr ziellos. Ohne Sinn verrät der Mensch sein innerstes sinnstiftendes Wesen. Diesseits-Spiritualität ist nur mit einer denkenden, sinnstiftenden Individualität zu haben.
Einheitserfahrungen im Konkreten
Wie sieht das nun konkret aus? Was geschieht durch eine solche Meditation wie die oben vorgestellte?
Steiner hat verschiedene Stufen unterschieden, in denen sich die innere Erfahrung entfaltet. Anknüpfend an die Traditionen, die er in seiner Umgebung vorfand, hat er die in der Meditation zu machenden Erfahrungen zunächst als Hellsichtigkeit beschrieben; später hat er die Bewusstseinsform, die in der Lage ist, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, etwas philosophischer «schauendes Bewusstsein» genannt. Dabei verwandelt sich die Qualität der Verbindung von Ich und Welt, sie wird inniger und liebevoller, ja, sie kann sogar als heilend erlebt werden, sowohl im Hinblick auf den Inhalt der Meditation wie auch auf den Meditierenden selbst. Und mit diesem Eindringen in die tieferen Schichten der Wirklichkeit geht ein Zuwachs an Freiheit, an Ideen und an Initiative einher, woraus in innerer Stimmigkeit fruchtbares Tun erwachsen kann.
Allgemeiner kann man vielleicht sagen, es entsteht so etwas wie ein Organ für Sinn, ein Sinn für Sinn im Konkreten. Eine Fähigkeit zu Einheitserfahrungen mit dem Leben, nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu. Der Spruch als Sinngebilde bildet in mir einen Sinn aus, das Wesen des Menschseins in seiner besonderen Ausprägung an diesem konkreten Menschen auch tatsächlich wahrzunehmen. Welche Geste hat das Haupt, das in seiner Abgeschlossenheit den Kosmos in seiner Kreisgestalt nachbildet? Welche Geste haben die Glieder, die ausgestreckt in ihrer Linienhaftigkeit potentiell ins Unendliche reichen? Wie werden diese beiden polaren Kräfte im Herzen miteinander verwoben? Und wie prägt sich die Dreiheit ganz konkret aus, in welchem Verhältnis stehen die drei Elemente zueinander? Es ist kein Nachdenken, sondern ein inneres Tasten im Umgang mit diesen Fragen, ein bewusstes Spüren und Erleben in und mit der inneren Tätigkeit.
So wird Sinn nicht zu einer Jenseits-Kategorie oder zu etwas willkürlich zur Welt Hinzugefügtem, sondern zum aufgeschlossenen Tor, das mich im Hier und Jetzt erleben lässt, worum und wohin es geht. Sinn wird zur Brücke, über die Ich und Welt sich miteinander verbinden und – vielleicht am wichtigsten – aneinander verwandeln. Und hierin liegt auch die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie begründet. Erfahrungen, die man mit einem Spruch wie dem oben zitierten machen kann, gehören beispielsweise zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik.
Es wäre interessant, die Haltung gegenüber anderen Menschen, die durch das Umgehen mit einem solchen Spruch entsteht, mit der achtsamen Haltung des Buddhisten zu vergleichen. Der Spruch soll ja nicht zu einem Konzept werden, mit dem ich mein Gegenüber belege. Auch der anthroposophisch Meditierende wird versuchen, sein Gegenüber so umfassend wie vorurteilslos wahrzunehmen. Er macht dabei aber die Erfahrung, dass die Wahrnehmung eines anderen Menschen sich vertieft und sinnvoll sich auszusprechen beginnt. Womöglich befähigt der Umgang mit einem solchen Spruch, die Erfahrungen mit anderen Menschen näher an das wahre Wesen des Menschen heranzurücken?
Und das Ego?
Und was geschieht derweil mit dem Ego? Wenn ich Steiner recht verstehe, ging es ihm auch gegenüber dem Ego weniger darum, es loszulassen, als es der Sphäre des von allen Identifikationen gereinigten Ich näherzubringen. Denn hinter jedem Schatten steht ein Licht, hinter jedem Egoismus eine selbstlose Fähigkeit. Im Ego drückt sich aus, wie sich der Tropfen aus dem Meer des Sinnes in dieser konkreten Person bisher manifestiert hat. Es bringt die eingegangenen Verbindungen und Identifikationen zum Ausdruck. Nur sind diese zunächst eben nicht bewusst, sondern wirken mit Eigendynamik und damit egoistisch.
Die Öffnung des Schattens zum Licht hin hat aber die Auflösung der Identifikation des eigentlichen Ich mit dem Ego zur Voraussetzung. Steiner gibt dazu eine elementare Übung: man möge abends noch einmal auf den Tag zurückschauen, dabei aber die Ereignisse rückwärts durchgehen.18 Warum? Erinnere ich vorwärts, ist sofort die Dynamik des Erlebten wieder da, ein unbedachtes Wort macht wieder wütend, eine Verletzung schmerzt erneut. Das ist beim Rückwärts-Erinnern nicht der Fall. Ich nehme die Emotion zwar wahr, werde aber nicht wieder in sie hineingezogen.
Das klingt sehr ähnlich wie die Prozesse, die Michael von Brück im Hinblick auf die Befreiung vom Leiden beschrieben hat. Für die Diesseits-Spiritualität der Anthroposophie ist es mit dem Loslassen und der Befreiung von den Anhaftungen noch nicht getan. Denn hier geht es ja gerade darum, sich mit der Welt ganz konkret zu verbinden, und das ist das genaue Gegenteil einer unwillkürlichen Anhaftung: Ich suche aktiv und frei eine neue Verbindung. Die Freiheit von den Anhaftungen soll zur Freiheit für eine Aufgabe werden.
Aber der Übergang von der unwillkürlichen Anhaftung zur frei ergriffenen Aufgabe ist heikel. Allzu leicht leben sich doch immer wieder nur die alten Anhaftungen in den angeblich neu ergriffenen Aufgaben aus. Wir leben andauernd auf dem schmalen Spalt zwischen Anhaftung und frei ergriffener Aufgabe. In der Rückschau-Übung übt sich das Ich darin, sich von den alten Anhaftungen unabhängig zu machen, indem es sie rückwärts anschaut. Dadurch behält es sie im Blick und löst doch gleichzeitig die Identifikation. Es gibt sie frei, um sich in einem neuen, lichtvolleren Zusammenhang neu zu konstituieren.
Gegenseitige Bereicherung
Das anthroposophische Konzept von Meditation ist komplex, gerade durch seine Sinnorientierung. Je besser ich die östlichen Methoden der Meditation kennenlerne, desto mehr scheint es mir, dass sie für den anthroposophisch Meditierenden eine gute Voraussetzung, ja vielleicht sogar eine Bedingung für gelingendes Meditieren sind. Die buddhistische Achtsamkeit verkörpert das Stadium zwischen vorgegebenen Sinnkonzepten und neuem sinnstiftenden Zugreifen, dem sich dann die anthroposophische Meditation zuwendet. Es erscheint mir sinnvoll, sich auf dieser Schwelle zwischen der gewordenen Welt und der strömenden Sinnhaftigkeit der geistigen Welt halten zu können: alte Anhaftungen und Sinnkonzepte abstreifend, ohne gleich wieder eine neue Verbindung eingehen zu müssen. Denn greife ich zu schnell zum Sinn, etwa weil ich das Zwischenstadium nicht aushalte, ist damit nur wieder eine neue, verfeinerte Form des Egoismus gegeben. Sich halten zu können auf der Schwelle zwischen Anhaftung und neuer Sinnstiftung scheint mir eine gute Voraussetzung für sinnstiftende anthroposophische Meditation zu sein.
1 Siehe Michael von Brück: Zen – Geschichte und Praxis, München 2007.
2 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), Dornach 1989, S. 66.
3 Dies wurde als kleine angeleitete Meditation auf das Wort «Ich bin» während des Vortrages auch durchgeführt.
4 Diese Übung ist als «Erste Nebenübung» bekannt und im Anhang wiedergegeben.
5 Die Übungen mit dem sogenannten «versatilen Dreieck» oder der «Rot-Grün-Vertauschung» sind ebenfalls im Anhang wiedergegeben.
6 Vortrag vom 20. April 1923, S. 94 in Rudolf Steiner: Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (GA 84), Dornach 1986.
7 Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), S. 70.
8 Siehe dazu ausführlich das Kapitel ‹Alles in der Welt ist bewusst› in diesem Buch, S. 183ff.
9 An diese halten wir uns hier, denn nur sie sind unabhängig von einer Lehrerpersönlichkeit, die Steiner ja auch war. Alle persönlich gegebenen Meditationen haben einen menschlichen Zusammenhang, der heute kaum noch zu rekonstruieren ist.
10 Diese drei Meditationen sind im Anhang enthalten.
11 Diese beiden Vorgänge sind in der Meditationswissenschaft vielfach als «focused attention» und «open monitoring» beschrieben worden.
12 Zum Beispiel der Zyklus von 52 Sprüchen, die den Wochen des Jahres zugeordnet sind und den Naturlauf der Erde mit dem seelischen Rhythmus zwischen Wahrnehmung und Denken in Verbindung bringen, in Rudolf Steiner: Wahrspruchworte (GA 40), Dornach 2005, S. 19ff.
13 Ebd., S. 140.
14 Joh 19,5.
15 Siehe hierzu Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (GA 4).
16 Vgl. Gernot Böhme: Bewusstseinsformen, München 2014, S. 197ff. Böhme hatte den Eröffnungsvortrag auf der Tagung gehalten.
17 Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Dornach 2003, S. 125.
18 Auch diese Übung findet sich im Anhang.
«Die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen» Der Geheimwissenschaft im Umriß zum Hundertsten
Die Geheimwissenschaft beendet Steiners inhaltsreiche Phase, in der Anthroposophie noch Theosophie hieß – ab 1911 erscheinen knappe, meditativ orientierte Bücher, die die Leser zur Eigenaktivität anregen sollen. Die Geheimwissenschaft bleibt aber zentral, Steiner bearbeitet sie für neue Auflagen immer wieder. Im Mittelpunkt der Geheimwissenschaft steht die Rosenkreuz-Meditation: Sie leitet über vom Aufnehmen des Inhaltlichen zu produktiver Eigenaktivität. Als sie Hundert wurde, entstand dieser Überblick über das umfangreiche Buch.
Die Geheimwissenschaft im Umriß enthält, so schreibt Rudolf Steiner im Januar 1925 in seiner letzten Vorrede zu diesem Buch, «ja die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen […] Alles, was ich seither sagen konnte, erscheint, wenn es an der rechten Stelle diesem Buche eingefügt wird, als eine weitere Ausführung der damaligen Skizze.»1 Das (nach Die Rätsel der Philosophie) umfangreichste Buch Steiners: eine Skizze? Diese Zuschreibung ist in der Tat nur berechtigt, wenn man das spätere Werk Steiners in die Geheimwissenschaft zu integrieren versucht. Nur dann bemerkt man, dass die Charakteristik von Luzifer und Ahriman – in der Geheimwissenschaft erstmals (schriftlich) niedergelegt – in den Folgejahren sowohl in Büchern wie in Vorträgen reiche Ausarbeitung erfuhr, was in noch reicherem Maße für das in der Geheimwissenschaft zwar an zentraler Stelle, tatsächlich aber nur knapp beschriebene Mysterium von Golgatha gilt. Das Wesen des Hüters der Schwelle wird bis zu Steiners Tod immer wieder neu charakterisiert, wer sich über die Prinzipien der Wirksamkeit der Planeten, über die Ätherarten oder die vorchristlichen Mysterien aufklären will, findet in der Geheimwissenschaft Grundlegendes, und natürlich sind die Anthropologie und der Reinkarnationsgedanke zeitlebens zentrale Themen gewesen, an denen Rudolf Steiner immer weiter gearbeitet hat.
Dennoch, der heutige Leser wird das Buch kaum als Skizze erleben. Bereits das Kapitel ‹Schlaf und Tod› enthält Weitungen, die der folgen wollenden Aufmerksamkeit nicht ohne Weiteres zugänglich sind, und das Kapitel ‹Die Weltentwickelung und der Mensch›, mit 160 Seiten schon äußerlich sehr umfangreich, birgt eine Stofffülle, die als Ganze nur von Spezialisten bewältigt wird. Insbesondere in diesem Kapitel sind implizit eine große Menge an Bezugnahmen enthalten, speziell auf Haeckels Evolutionsgedanken sowie auf die entsprechenden theosophischen Gedanken Blavatskys, Sinnetts oder Scott-Elliots. Diese Bezugnahmen, die damals sozusagen in der Luft lagen, sind dem heutigen Leser nicht mehr zugänglich und erschweren die Lektüre. Die «Maulbeere» des alten Saturn, der durch Absonderung entstandene zweigliedrige Mensch zum Beginn der Sonnenentwicklung und die «Eichelfrucht» im Beginn der Erdentwicklung sind «sinnlich-übersinnliche Bilder»2, die für sich selbst sprechen. Aber um wie vieles deutlicher wird diese Sprache, wenn man die Anspielung auf Haeckels Beschreibung der pflanzlichen Keimesentwicklung durch Morula, Blastula und Gastrula versteht! Und um wie vieles transparenter wird die Erdentwicklung und die ausgiebige, komplexe und übrigens 1913 grundlegend überarbeitete Schilderung des sogenannten «Sündenfalls» in der lemurischen Zeit, wenn man weiß, dass für H.P. Blavatsky und infolgedessen für die theosophischen Leser der «Sündenfall» im Mittelpunkt der Menschheitsentwicklung stand. Das war die Folie, vor der Steiner dem Mysterium von Golgatha seine Mittelpunktsstellung verlieh.3
Auch 1910, beim Erscheinen der Geheimwissenschaft, ist das Buch sicherlich nicht als Skizze erlebt worden. Viel eher dürfte es als Zusammenschau von Steiners bisherigem theosophisch-anthroposophischen Schaffen rezipiert worden sein. Denn es fasst die Veröffentlichungen Steiners seit der Übernahme des Generalsekretär-Postens der Theosophischen Gesellschaft unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammen.
Da war 1904 zunächst die Theosophie erschienen. Sie bereits enthält eine Anthropologie, den Reinkarnationsgedanken, Ausführungen zur Seelenwelt und zum Geisterland sowie eine allererste Fassung des anthroposophischen Schulungsweges. Mit Ausnahme der Evolution sind also alle Themen der Geheimwissenschaft bereits angeschlagen. Die Theosophie ist komponiert nach der Dreigliederung von Leib, Seele und Geist, und die Dreigliederung wird auch zur Grundlage der Entwicklung des Reinkarnationsgedankens ebenso wie für die Schilderung von Seelenwelt und Geisterland. In den folgenden Jahren bis 1908 hat Rudolf Steiner die angeschlagenen Themen ausgearbeitet und als Aufsätze in der Zeitschrift Lucifer-Gnosis veröffentlicht, woraus später Sonderdrucke sowie Bücher – einige allerdings erst nach Rudolf Steiners Tod – erstellt wurden. Eingegangen sind die Aufsätze in die Bücher Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (Sonderdruck 1907, Buchausgabe 1909), Die Stufen der höheren Erkenntnis (Sonderdruck 1908, Buchausgabe 1931) und Aus der Akasha-Chronik (Sonderdruck 1907, Buchausgabe 1939). So hat die Darstellung des Schulungsweges nach der Theosophie große Veränderungen erfahren, zunächst mit der Hinzunahme der Natur als Übungsfeld und überhaupt einer großen Fülle von Übungsanregungen in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?. Die Systematisierung der höheren Erkenntnisstufen als Imagination, Inspiration und Intuition erscheint erst in Die Stufen der höheren Erkenntnis. Ganz neu tritt nach der Theosophie das Thema Evolution und Weltentwicklung hinzu, das in den Aufsätzen Aus der Akasha-Chronik erstmals durchgearbeitet wird (sowie natürlich parallel in Vorträgen).
In der Geheimwissenschaft werden nun alle angeschlagenen Themen zusammengefasst: die Anthropologie im Kapitel ‹Wesen der Menschheit› (II), der Reinkarnationsgedanke und die Darstellung von Seelenwelt und Geisterland im Kapitel ‹Schlaf und Tod› (III), der Evolutionsgedanke im Kapitel ‹Die Weltentwickelung und der Mensch› (IV), fortgesetzt im Kapitel ‹Gegenwart und Zukunft der Welt- und Menschheits-Entwickelung› (VI), und zwischen diesen beiden Kapiteln zum Evolutionsgedanken der umfangreich und systematisch dargestellte Schulungsweg im Kapitel ‹Die Erkenntnis der höheren Welten (Von der Einweihung oder Initiation)› (V). Abgeschlossen wird das Buch von ‹Einzelheiten aus dem Gebiete der Geisteswissenschaft› (VII), die einige Themen vertieft aufgreifen. Und sieht man dann noch das Einleitungskapitel der Geheimwissenschaft, in dem es um den ‹Charakter der Geheimwissenschaft› (I) geht, als eine für die theosophisch-anthroposophischen Verhältnisse umgearbeitete Erkenntnistheorie an, so ist in der Tat in die Geheimwissenschaft das gesamte vorangegangene philosophische und theosophisch-anthroposophische Schaffen Steiners eingegangen.
Ein einheitlicher Gesichtspunkt
Neu sind in der Geheimwissenschaft insofern weniger die Inhalte, die im Einzelnen schon bekannt waren und den Mitgliedern in den genannten Aufsätzen und in Vorträgen immer wieder dargebotene Grundlagen der Anthroposophie enthalten. Neu ist insbesondere der Gesichtspunkt, unter dem Rudolf Steiner sein bisheriges Schaffen nun zusammenfasst: der der Viergliederung des Menschen in physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich und der Verwandlung der drei Leibesglieder in Geistesglieder.
So beginnt das Kapitel ‹Wesen der Menschheit› nicht mit der Dreigliederung nach Leib, Seele und Geist, sondern mit dem Aufbau der vier Wesensglieder entlang der Naturreiche, gipfelnd in der Zusammenfassung:
«Wie der physische Leib zerfällt, wenn ihn nicht der Ätherleib zusammenhält, wie der Ätherleib in der Bewußtlosigkeit versinkt, wenn ihn nicht der Astralleib durchleuchtet, so müßte der Astralleib das Vergangene immer wieder in die Vergessenheit sinken lassen, wenn dieses nicht vom «Ich» in die Gegenwart herübergerettet würde. Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewußtsein und dem Ich die Erinnerung.»4
Es folgt die Differenzierung der Ich-Tätigkeit in Empfindungs-, Verstandes- und Bewusstseinsseele, die dann vertieft wird in die geistige Dreiheit von Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch. Diese drei geistigen Glieder werden gebildet, wo das Ich das verborgene Geistige im Offenbaren der Leiblichkeit freilegt. (Die Dreigliederung der Theosophie wird hier also durchaus integriert.) Die verwandelnde Arbeit des Ich wird in diesem Kapitel zunächst als Kulturtatsache dargestellt:
«Im Grunde besteht alles Kulturleben und alles geistige Streben des Menschen aus einer Arbeit, welche diese Herrschaft des Ich zum Ziele hat. Jeder gegenwärtig lebende Mensch ist in dieser Arbeit begriffen: er mag wollen oder nicht, er mag von dieser Tatsache ein Bewußtsein haben oder nicht.»5
Die Vierheit von physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich wird in allen folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen, aber unter jeweils veränderten Bedingungen. Im Kapitel ‹Schlaf und Tod› werden die vier Wesensglieder in ihrer Auflösung nach dem Tod und ihrer Neubildung vor der nächsten Geburt beschrieben. Ebenfalls findet hier eine Verwandlung von physischem Leib, Ätherleib und Astralleib statt, aber anders als im vorangegangenen Kapitel, in dem diese Verwandlung als allmählich und kontinuierlich beschrieben wurde, gehen die Wesensglieder nun durch eine völlige Auflösung: Zunächst wird mit dem Tode der physische Leib abgelegt; dann löst sich nach wenigen Tagen der Ätherleib auf, nachdem er wie ein Tableau das nunmehr abgeschlossene, zu einer Ganzheit gewordene vergangene Erdenleben als innerlich stimmiges Gemälde dem nachtodlichen Bewusstsein zur Erscheinung gebracht hat; und dann beginnt die Zeit, in der der Astralleib mit all seinen Begierden, Trieben und Leidenschaften so weit geläutert wird, dass das Ich seine Verwobenheit mit dem dem Erdenleben allzu stark zugeneigten Astralleib ablegen kann. Nun kann das von jeder Anhaftung an Irdisches befreite Ich in das Geisterland eintreten, verbunden mit allen Früchten des vergangenen Erdenlebens, die nun in Keime für das künftige Erdenleben verwandelt werden, in einer Welt, die nur aus Intentionen und schlackenfreien Urbildern besteht. Hier kann das Ich sich qualifizieren, nach Maßgabe der gefassten Intentionen einen neuen Astralleib, einen neuen Ätherleib und schließlich einen neuen physischen Leib auszubilden, die den im Geistigen gebildeten Intentionen entsprechen. Das Ich im Geisterland webt mit an den Verhältnissen der eigenen Leiblichkeit und den Welt-, Kultur- und Naturverhältnissen, in die diese Leiblichkeit eingebettet sein wird.
Und auch im Evolutionskapitel sind die vier Wesensglieder der rote Faden, der das Verstehen durch die Fülle des Stoffs hindurchführt. Der Alte Saturn schildert die Bedingungen der Entstehung des physischen Leibes und des Physischen überhaupt, auf der Alten Sonne entsteht der Ätherleib, auf dem Alten Mond der Astralleib, und auf der Erde kommt das Ich hinzu. Aber es ist eigenartig: Denn das zunächst nur als Wärme erscheinende Physische des Alten Saturn hat nahezu Ich-Qualität, das Ich des Irdischen ist ohne das nunmehr fest gewordene Physische nicht zu denken. Eins steckt im anderen drin, Physisches und Ich sind von Beginn an aufeinander bezogen.
Die Wesensglieder mit dem Ich werden geschaffen von hierarchischen Wesenheiten, die als Fluchtpunkte des Denkens die Aktivität der Schöpfung einzufangen vermögen. Aber mit dem Auftreten des Ich treten die Hierarchien zurück. Nur die Weltmächte Christus, Luzifer und Ahriman umgeben den Menschen noch, zwischen ihnen ist der Mensch mehr und mehr auf sich selbst gestellt, und vollends auf sich gestellt ist er nun, was die Fortführung der Evolution in die Zukunft hinein betrifft.
Diese Zukunft wird angedeutet im Kapitel ‹Gegenwart und Zukunft der Welt- und Menschheitsentwickelung›. Es ist so knapp, wie das in die Vergangenheit gerichtete Weltentwicklungskapitel umfangreich ist. So wie das Ich im Leben zwischen Tod und neuer Geburt die Frucht des vergangenen Erdenlebens umwandelt in den Keim des nächsten, so wandelt der an der Evolution beteiligte Zeitgenosse die Früchte der Schöpfung um in Keime für die Zukunft. Aber während man es bei den Früchten der Vergangenheit mit Tatsachen zu tun hat, denen sich das Erkennen ruhig gegenüberstellen kann, so erregt, «was in der Zukunft geschieht, […] das menschliche Fühlen und Wollen.»6 Hier ist ein ganz anderer Modus menschlicher Tätigkeit gefragt: die gewonnene menschliche Freiheit achtend bei zugleich voller Verantwortungsübernahme für das Verwirklichen zukünftiger Evolution. Soweit diese gelingt, werden die zukünftigen Weltzustände Jupiter, Venus und Vulkan Verwandlungen der vergangenen Zustände Mond, Sonne und Saturn sein – im Sinne der in die bisherige Entwicklung einverleibten Möglichkeiten: Dies ist gerade der Mensch, der Freiheit und Verantwortlichkeit miteinander verbindet, der zum «selbständigen Glied einer geistigen Welt»7 geworden ist.
Entwicklung des Bewussteins: Der Vegetationskegel der Evolution
Diese hohe Verwandlungsaufgabe des zur Freiheit herangereiften geistigen Menschenwesens, die Arbeit des Ich am Physischen, am Ätherischen und am Astralen wird in der Geheimwissenschaft in mehreren Schattierungen beschrieben: als Kulturtatsache im zweiten, als Ereignis im Leben zwischen Tod und neuer Geburt im dritten und als Resultat der ganzen Evolution im vierten Kapitel. Damit der Mensch aber diese Aufgabe tatsächlich ergreifen kann, bedarf es noch mehr als einer unterstützenden Kultur, als des im Leben zwischen Tod und Geburt vorbereiteten Schicksalswirkens, als einer Evolution, die uns an diese Stelle geführt hat. Es bedarf der bewussten und gezielten Arbeit des Menschen an sich selbst. Diese ist Voraussetzung, um die Evolution entsprechend weiterzuführen. Und diese Arbeit beginnt mit der Verwandlung des Bewusstseins. Denn immer war es das Bewusstsein, das im Mittelpunkt des Entwicklungsstrebens der Hierarchien lag. Die Entwicklung des Bewusstseins ist, vergleichsweise gesprochen, der Vegetationskegel der Evolution. Und es ist das Gebiet, in dem wir Menschen am unmittelbarsten arbeiten können: an der Entwicklung unseres Gegenstandsbewusstseins, das auf die Gegebenheiten einer geschaffenen physischen Welt ausgerichtet ist, zu einem imaginativen Bewusstsein, das Bildeprozesse, Zukunftsprozesse, Lebendiges und Werdendes angemessen zu erfassen vermag.
Dieser Arbeit ist das zwischen Vergangenheit und Zukunft der Evolution eingefügte fünfte Kapitel ‹Die Erkenntnis der höheren Welten› gewidmet. Hier wird sehr genau beschrieben, was man an diesem Vegetationskegel tun kann, um Anfangskeime der Imagination und darauffolgend der Inspiration und Intuition auszubilden, was man tun kann, um die Evolution voranzutreiben. Denn anders kann man diese Stellung des Schulungskapitels mitten im Evolutionskapitel kaum verstehen: Es ist die Schulung des Bewusstseins, die Verwandlung des Gewordenen in jedem Einzelnen, ganz konkret im Hier und Jetzt. Die Rosenkreuz-Meditation, Zentrum des Schulungskapitels, fasst diesen ganzen Zusammenhang für die verschiedenen Stufen des Bewusstseins. In ihr ist auch jener Übergang enthalten vom «Sündenfall» als der zu tiefen Verstrickung des Ich im Astralleib, der in Blavatskys Geheimlehre im Mittelpunkt stand, zum Mysterium von Golgatha, das in der Geheimwissenschaft in den Mittelpunkt rückt: als Möglichkeit, das Ich so zu ergreifen, dass es den Astralleib zu verwandeln und den «Sündenfall» zu überwinden vermag. Meditation und Schulung setzen die Evolution fort, indem sie den Meditierenden selbst verwandeln und in ihm die Fähigkeiten ausbilden, die Welt zu verwandeln, die Schöpfung fortzuführen.
Auch im Schulungskapitel begegnen uns die vier Wesensglieder wieder, auch hier wird der einheitliche Gesichtspunkt durchgetragen: Schulung beginnt im Gegenstandsbewusstsein, mit Gedanken, die das Ich mit seinem zunächst an den physischen Leib gebundenen Denken denken kann, die sich aber zugleich schon auf Geistiges richten. Sie setzt sich fort in die Imagination, die mit der Verwandlung des Astralleibes einhergeht, während die Inspiration den Ätherleib und die Intuition den physischen Leib umwandelt.8
So wird durch die ganze Geheimwissenschaft das Motiv der Verwandlung von physischem Leib, Ätherleib und Astralleib durch das Ich durchgeführt, mit wachsenden Dimensionen. Es ist dieser einheitliche Gesichtspunkt, der es erlaubt, das Erscheinen der Geheimwissenschaft mit einem gewissen Recht gleichzusetzen mit dem Zeitpunkt, in dem Anthroposophie erstmals als Ganzes, als in sich stimmiges System auftritt. Dass daraus doch kein abgeschlossenes System geworden ist, verdankt sich nicht nur der weiteren Lebensleistung Rudolf Steiners, der mit seiner – von der Theosophie durchaus verschiedenen – Dreigliederung 1917 nochmals eine neue Systematik eröffnet und damit die ganze Anthroposophie in innerer Spannung hält, es verdankt sich auch der Fassung dieses systematischen Entwurfs: Sie ist dem Denken und nur dem Denken gegeben. Das Denken wird eingeführt in die Bildeprinzipien der Welt und des menschlichen Seins. Aber welche moralischen Folgen daraus zu ziehen seien, das ist dem Denkenden anheimgegeben. Die geisteswissenschaftlichen Gedanken ermöglichen ein Eindringen in das Weltganze, das zu einem Leben im Zusammenhang mit diesem Weltganzen befähigt. Aber sie achten in jedem Fall die Freiheit des Denkenden.
Das ist mit ein Grund, warum dieses Buch so schwer zu lesen ist. Rudolf Steiner wollte vermeiden, dass sein systematischer Entwurf leichfertig dogmatisiert oder gar zur Grundlage von Fanatismus wird. Er wollte das freie Ich ansprechen, das selber entscheidet, ob es die Verantwortung, die aus geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten quillt, übernehmen will. Er wollte mit der Geheimwissenschaft Menschen anregen, «sich als ein selbständiges Glied einer geistigen Welt zu fühlen».9
Die Geheimwissenschaft ist singulär geblieben. Kein späteres Buch erhebt den Anspruch, Anthroposophie als Ganze darzustellen. Vielmehr werden die Bücher in den folgenden Jahren immer inniger. Sie setzen noch viel unmittelbarer auf die Aktivität des Ich. Demgegenüber treten Stofffülle und Systematik zurück. Dem Gegenstandsbewusstsein, dem Anspruch, den Gedanken vom Geistigen eine in sich stimmige und umfassende Form zu geben, die dem ans Gehirn gebundenen Denken zugänglich ist, ist mit der Geheimwissenschaft genüge getan.
Der Bewegung der Begriffe folgen
Aber die Formung der Gedanken in der Geheimwissenschaft und die Verwandlung dieser Formung durch das Buch hindurch verdient noch eine eigene Betrachtung. Denn die Geheimwissenschaft will eben nicht nur vom Geistigen reden, sondern sie will den Menschen anregen, tatsächlich ins Geistige einzudringen, sich selbst zu ihm hinzuentwickeln. Diese Anregung geschieht durch Denkformen, die immer anspruchsvoller werden, dafür aber auch ein immer reicheres Kraftpotenzial in sich enthalten.
Im Kapitel vom ‹Wesen der Menschheit› werden die Grundbegriffe entwickelt. Sie werden abgeleitet aus der Anschauung des toten, des schlafenden und des bewussten, schließlich des sich erinnernden Menschen. Es ergibt sich ein begrifflicher Zusammenhang, der oben bereits zitiert wurde, und der durch seine innere Systematik eine starke begriffsprägende Kraft hat:
«Wie der physische Leib zerfällt, wenn ihn nicht der Ätherleib zusammenhält, wie der Ätherleib in der Bewußtlosigkeit versinkt, wenn ihn nicht der Astralleib durchleuchtet, so müßte der Astralleib das Vergangene immer wieder in die Vergessenheit sinken lassen, wenn dieses nicht vom «Ich» in die Gegenwart herübergerettet würde. Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewußtsein und dem Ich die Erinnerung.»10
Denn die Begriffe werden nicht nur nebeneinandergestellt, sondern stehen auch zueinander in einem inneren Zusammenhang. Tod, Schlaf und Vergessen sind unterschiedliche Aggregatzustände von fehlender irdischer Präsenz: im Tod, in dem der physische Leib sich selbst überlassen ist, im Schlaf, in dem physischer Leib und Ätherleib bewusstseinslos zusammenhängen, und im Vergessen, in dem zum physischen und Ätherleib zwar ein Astralleib hinzutritt, aber noch kein Ich. Als Gegenbegriffe gehören zu Tod, Schlaf und Vergessen Leben, Bewusstsein und Erinnerung. Mit wenigen Termini wird hier ein begrifflicher Zusammenhang aufgebaut, der das Wesen des Menschen in seiner Viergliedrigkeit in einer ersten Skizze einfängt, beinahe definitorisch zunächst, und zugleich in seiner inneren Dichte schon weit darüber hinausweisend.11
Im Kapitel ‹Schlaf und Tod› werden diese klar gefassten Begriffe nun in Bewegung gebracht. Zunächst, wenn es um Schlaf und Traum geht, wird gefragt: Wo eigentlich sind Astralleib und Ich, wenn physischer Leib und Ätherleib schlafend im Bette liegen? Es zeigt sich, dass der Astralleib so etwas wie eine Rückseite hat, die nachts zum Tragen kommt. Tagsüber bildet er die Grundlage unseres Alltagsbewusstseins, indem er uns ein- und abgrenzt, uns der Welt gegenüberstellt. Nachts aber stülpt er sich um, dehnt sich aus in die ganze Welt, fügt sich harmonisch in den ganzen Kosmos ein, bis zu den Sternen, und schöpft dort die Kraft, um dann die eigentlich unharmonische Abgrenzung wieder für eine gewisse Zeit zu bewältigen. Und was passiert im Traum? Da kommt der Astralleib aus dem Schlaf zurück, aber er durchdringt erst den Ätherleib, noch nicht den physischen Leib. Und deshalb produziert er zwar innere Bilder, die aber ohne Zusammenhang mit der Außenwelt sind. Das ist einsichtig, verständlich, stimmig. Und so geht es weiter. Was geschieht mit dem Ätherleib nach dem Tode? Er zeigt sich in seiner Urqualität, als zusammenhangstiftende Kraft des ganzen Lebens, als Bildekraft hinter all den Einzelheiten, die uns unsere Biographie und unser Gegenstandsbewusstsein zunächst präsentieren. Er enthält die Bildekraft, nicht die abgeschnürte Einzelheit. Und der Astralleib? Er muss all das in der Abschnürung Erlebte wieder befreien, so dass es sich harmonisch dem Kosmos eingliedern kann.
Die Begriffe werden in Bewegung gebracht, in dem sie durch Traum, Schlaf und Tod unterschiedliche Verhältnisse zueinander eingehen, und sie offenbaren dabei andere Aspekte als bei ihrer Eingliederung in den wachen Erdenmenschen. Was den wachen Erdenmenschen bildet, reicht weiter, als der erste Blick es vermuten lässt. Die Begriffe sind offen für den Kosmos, sind offen für ein Menschenwesen, das mit dem Weltganzen in Verbindung steht.
Das zu entdecken erfordert eine innere Aktivität, erfordert, der Begriffsbildung wirklich zu folgen. Das ist mehr, als dem puren Inhalt zu folgen und sich erzählen zu lassen, was nach dem Tode geschieht. Die mitdenkende Aktivität nimmt nicht nur die Erzählung hin, sondern folgt der Bewegung der Begriffe und taucht dadurch begriffsbildend ein Stück weit in die Wirklichkeit ein, von der die Rede ist.
Ein probates Mittel, um in diesem Sinne die Bewegung der Begriffe mitzuvollziehen, ist das Referieren des Textes aus eigener Kraft. Zunächst wird es wenig sein, was man von einem Kapitel, einem längeren oder kürzeren Absatz referieren kann. Aber jeder Versuch steigert die Aufmerksamkeit, und beim nächsten wird es schon besser gehen. Man wird bemerken, dass sich der Text kaum dem Gedächtnis, wohl aber dem Mitdenken fügt. Dass man hier und da Zusammenhänge entdeckt. Dass den anfänglichen Zusammenhängen, dem ersten Verstehen zu folgen fruchtbarer ist als dem Nicht-Verstehen, und dass es wichtig ist, Fragen offen zu halten statt sie rasch zu beantworten. Und man wird bemerken, wie immer genaueres Referieren immer tiefere Seelenschichten beteiligt. Die Wirklichkeit, von der die Rede ist, liegt in den Tiefen meiner Seele. Und die Begriffe sind so geformt, dass ihr Mitdenken diese tieferen Seelenschichten beteiligt, aktiviert, freilegt. Ich kann bemerken, wie in meinem Inneren beim Referieren leise etwas in Resonanz gerät, von dessen Existenz ich kaum etwas wusste, das aber durch stetige Pflege immer präziser erlebbar wird.
«Liest man Mitteilungen aus der sinnenfälligen Welt, so liest man eben über sie. Liest man aber Mitteilungen über übersinnliche Tatsachen im rechten Sinne, so lebt man sich ein in den Strom geistigen Daseins. Im Aufnehmen der Ergebnisse nimmt man zugleich den eigenen Innenweg dazu auf. Es ist richtig, daß dies hier Gemeinte von dem Leser zunächst oft gar nicht bemerkt wird. Man stellt sich den Eintritt in die geistige Welt viel zu ähnlich einem sinnenfälligen Erlebnis vor, und so findet man, daß, was man beim Lesen von dieser Welt erlebt, viel zu gedankenmäßig ist. Aber in dem wahren gedankenmäßigen Aufnehmen steht man in dieser Welt schon drinnen und hat sich nur noch klar darüber zu werden, daß man schon unvermerkt erlebt hat, was man vermeinte, bloß als Gedankenmitteilung erhalten zu haben.»12
Das Studium der Geheimwissenschaft als Bewusstseinsentwicklung
Im Kapitel ‹Schlaf und Tod› wird durch das Mitdenken zunächst der Wesensbereich in mir angeregt, in dem die Imagination wurzelt. Mit ihr reiche ich schon ein Stück weit ins Leben zwischen Tod und neuer Geburt hinein. Das lebendige Denken, das Begriffe von Geistigem miteinander in Bewegung bringt, deren innerer Zusammenhang sich nur innerlich offenbart – das ist eine erste imaginative Tätigkeit.
Noch mehr verlangt das Kapitel von der Weltentwicklung. Auch hier ist das referierende Mitdenken ein guter Einstieg, aber es reicht nicht. In ‹Schlaf und Tod› waren die Verhältnisse noch so, dass ich mich am Zeitablauf und der Rückseitigkeit zur Konfiguration der Wesensglieder im Alltagsmenschen quasi festhalten konnte, ich hatte eine innere Orientierung, die aus der Ähnlichkeit mit meinen alltäglichen Erfahrungen resultierte. Auf dem Alten Saturn werde ich nun in eine Welt gestellt, die mit der mir bekannten nur noch die Wärme gemeinsam hat. Ansonsten habe ich nichts, woran ich mich festhalten könnte. Stattdessen kommt mir eine Komplexität von Beziehungen, von Andeutungen, Prozessen, Wesenheiten entgegen, deren Fülle und Wirklichkeitsgehalt ich vielleicht ahne, doch kaum halten kann. Das ist ein Merkmal inspirativer Erfahrung. Ein Halten, Einprägen und Verbinden mit der Komplexität des Beschriebenen wird eigentlich nur möglich, indem ich Fragen stelle an den Text, selber setze, welche Aspekte der Komplexität ich verfolgen möchte. Ist es die Verdichtung von Wärme über Luft zu Wasser bis hin zum Festen? Ist es das Zunehmen von Differenzierung, das durch Spiegelung, Zurückbleiben und Absonderung immer facettenreicher wird, das reichste Vielfalt bei gleichzeitiger innerer Einheit ermöglicht? Ist es das Entstehen von Fortpflanzung, also der Trennung zwischen geistiger und physischer Entwicklung, die von Zustand zu Zustand immer stärker wird, oder die Entstehung der Sinne, die schließlich unser Gegenstandsbewusstsein ermöglichen, aber schon auf dem Saturn angelegt werden? Verfolge ich die sich wandelnde Funktion der Pralayas? Versuche ich, aus einem Begriff, etwa dem der Spiegelung oder der Wärme, den ganzen Saturn zu entwickeln? Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, aber eine der vielen Möglichkeiten zu wählen, das scheint mir der Schlüssel für diese Stufe der Gedankenbildung zu sein. Denn nur meine eigene Frage verleiht mir Halt in einer geistigen Wirklichkeit, die doch in den Gedankenformen Steiners so gegenwärtig ist, dass sie mich erschlägt, wenn ich mich ihr gegenüber nicht aufrechterhalten kann – sofern sie nicht einfach an mir vorbeizieht, weil ich mich ihrer Kraft lieber gar nicht erst aussetzen möchte.
Gelingt es aber, in dieser Komplexität wach zu bleiben, so bemerkt man nicht nur, wie verschiedene Bereiche zusammenwachsen, sondern wie ich eintauche in eine in den Gedanken wirkende Wirklichkeit, die mir das Weltensein in ganz neuer Weise erschließt. Diese Erfahrung wird leicht verfehlt. Zu groß ist die Verführung, sich unter dem Alten Saturn etwas vorstellen zu wollen, was irgendwie meinem Erfahrungsschatz ähnlich wäre. Wenigstens möchte ich doch wissen, wie es auf dem Alten Saturn ausgesehen hat oder mit welcher geologischen Epoche Lemuris und Atlantis zusammenfallen. Aber dieses Bedürfnis nach alltäglicher Vorstellbarkeit bedient Rudolf Steiner in der Geheimwissenschaft nicht. Wie prall waren doch die Schilderungen in den Aufsätzen Aus der Akasha-Chronik, wo von den Flugzeugen der Atlantier, von anschaulichen Tier- oder Menschenformen die Rede war. Und mit dem klaren Aufbau von Bewusstsein, Leben und Form hatte man in den 7 x 7 x 7-Gliederungen doch immer eine deutliche Orientierung. In der Geheimwissenschaft wird die systematische Orientierung verwischt, wird nicht eine Schilderung zu solch praller Anschaulichkeit geführt. Immer ist die Schilderung so, dass ich selber sie verdichten und in Zusammenhänge rücken muss. Dann aber wachse ich mit dieser Schilderung hinein in die Wirklichkeit, von der die Rede ist, nicht im Sinne von Begriffen, die von einer äußeren Wirklichkeit abgezogen sind, sondern so, dass ich in den Gedankenbildungen die Wirklichkeit dessen erlebe, wovon die Rede ist. Im Studium des Weltentwicklungskapitels wachse ich tatsächlich mit der geistigen Welt zusammen. Ich erlebe die innere Einheit in aller Differenzierung, ich erfahre die Schöpfungskraft der Hierarchien und ihre unendliche Bereitschaft, alles zu tun, damit der Mensch ein freies Wesen werden kann und zugleich doch ein Glied der geistigen Welt zu bleiben vermag. Ich erlebe, dass die Welt der ausgebreitete Mensch ist und ich als Mensch in dieser Welt als ihr Mittelpunkt, als ihr Vegetationskegel stehe. Das wird Erfahrung. Aber es setzt diese innere Gedankenarbeit und die Setzung eigener Fragestellungen voraus. Sonst bleibt es dogmatisierbares Wissen.
Bild wird Kraft
Steiner beschreibt diese Wirksamkeit der Gedanken mit einem Bild am Ende des Kapitels ‹Schlaf und Tod› mit Bezug auf den inneren Umgang mit dem Reinkarnationsgedanken:
«Zwei Menschen – so wolle man annehmen – bekämen eine Siegellackstange in die Hand. Der eine stelle intellektuelle Betrachtungen an über die «innere Natur» der Stange. Diese Betrachtungen mögen sehr klug sein; wenn sich diese «innere Natur» durch nichts zeigt, mag ihm ruhig jemand erwidern: das sei Träumerei. Der andere aber reibt den Siegellack mit einem Tuchlappen, und er zeigt dann, daß die Stange kleine Körperchen anzieht. Es ist ein gewichtiger Unterschied zwischen den Gedanken, die durch des ersten Menschen Kopf gegangen sind und ihn zu den Betrachtungen angeregt haben, und denen des zweiten. Des ersten Gedanken haben keine tatsächliche Folge; diejenigen des zweiten aber haben eine Kraft, also etwas Tatsächliches, aus seiner Verborgenheit hervorgelockt. – So ist es nun auch mit den Gedanken eines Menschen, der sich vorstellt, er habe die Kraft, mit einem Ereignis zusammenzukommen, durch ein früheres Leben selbst in sich gepflanzt. Diese bloße Vorstellung regt in ihm eine wirkliche Kraft an, durch die er in einer ganz andern Art dem Ereignis begegnen kann, als wenn er diese Vorstellung nicht hegt. […] Wiederholt jemand solche innere Vorgänge, so werden sie fortgesetzt zu einem Mittel innerer Kraftzufuhr, und sie erweisen so ihre Richtigkeit durch ihre Fruchtbarkeit.»13
Es ist diese Verwandlung des zunächst bildhaften Gedankens in Kraft, die das Geheimnis der Geheimwissenschaft ausmacht. Solche Gedanken sind nicht in erster Linie dazu da, um sich etwas unter ihnen vorzustellen – wenn auch das immer wieder möglich und für den Anfang auch eine Hilfe sein kann –, sondern sie werden zu Kräften, die die Wirklichkeit konfigurieren in einer dem Sinn der Evolution entsprechenden Art und Weise. Die Pflanze wird mir etwas anderes, wenn ich immer wieder den Gedanken bewegt habe, dass Pflanze und Mensch sich seit der Alten Sonne gemeinsam entwickelt haben, dass es Beziehungen gibt zwischen Pflanze und Mensch, die auch heute noch durch Heil- oder Nahrungspflanze wirksam sind. Mein Verhältnis zu meinem Astralleib verändert sich, wenn ich immer wieder versucht habe, mit meinem Ich den Gedanken vom «Sündenfall», der mein Ich so stark in den Astralleib verstrickt hat, und dessen gesamtem Kontext zu denken. Der Impuls, einen Schulungsweg tatsächlich zu gehen, stärkt sich, wenn ich die Stellung des Menschen in der Evolution tatsächlich erfahren habe.
Und dies ist nun der nächste Schritt in der Gedankenentwicklung der Geheimwissenschaft: Im Schulungskapitel geht es darum, den Standpunkt, von dem aus eigene Tätigkeit möglich wird, genau zu justieren, und dann auch tätig zu werden. Das ist der Zipfel, an dem die ganze Weisheit der Geheimwissenschaft sich umstülpt, in meine Hände gelegt wird, von der Vorlage zur Aufgabe wird. Ich stehe in der Weltenmitternacht zwischen Tod und neuer Geburt, ausgegossen in die Intentionen der Welt, daran meine Aufgaben bildend. Ich stehe zugleich im Hier und Jetzt, mit dieser großen Perspektive meine kleinen Aufgaben ergreifend. Hier bin ich intuitiv gefordert. Das Schulungskapitel bietet mir mit der Rosenkreuz-Meditation ein Kraftbild, das mich bis zur Intuition führen kann, mit den Nebenübungen und dem Rückblick eine Handhabe, um im Hier und Jetzt vom Ich aus Herrscher im Astralleib zu werden, den «Sündenfall» ein Stück weit zu überwinden und Platz zu machen für das Mysterium von Golgatha. Denn darum geht es letztendlich.
Eine Kraftquelle
Rudolf Steiner hat immer wieder betont, dass man verstehen kann, wovon in der Geheimwissenschaft die Rede ist.14 Es war ihm wichtig, nicht Offenbarungen zu verkünden, sondern dem Ich das Material zu liefern, seine Aufgabe souverän zu ergreifen. Dringt man hier und da ein in die in der Gedankenbildung wirksame Kraftwelt und Wirklichkeit, so gewinnt man den höchsten Respekt vor Rudolf Steiners Leistung, diese geistige Wirklichkeit und Kraft bis in die Gedankenform hinein geprägt zu haben. In einer Weise, dass sie heute durch diese Gedanken hindurch immer noch aufgesucht werden kann! Diese Leistung, die geistige Wirklichkeit in die Gedankenform einzuprägen und durch sie hindurch in die geistige Wirklichkeit einzudringen, ermöglicht einen Zugang zu dem Christus-Ereignis der Gegenwart. Es beginnt mit der in der Welt ausgegossenen Weisheit, mit den in der Geheimwissenschaft entwickelten Bildegedanken. In sie arbeite ich mich denkend ein, verinnerliche sie. Und «geistige Erkenntnis wandelt sich durch das, was sie ist, in Liebe um».15 Der Gedanke wird Kraft. Weisheit wird Liebe. Nicht uns weiser zu machen ist die Geheimwissenschaft geschrieben, sondern uns dank der verinnerlichten Weisheit, aus dem Innesein im Sinn der Welt uns der Welt zuzuwenden, den Sinn der Welt in der Welt offenbar zu machen – das ist die Möglichkeit, die die Geheimwissenschaft bietet. Auch heute noch.
Ihre Zukunft wird vielleicht weniger im Vermitteln von Informationen über die geistige Welt liegen als in ihrer Potenz als Schulungsbuch. Als Schulungsbuch im Nachdenken, Mitdenken und Selberdenken der Gedanken vom Wesen des Menschen, von Schlaf, Tod und Wiedergeburt, von der Schöpfung, der gewordenen Welt und ihrer Zukunft, als Schulungsbuch aber auch im Umgang mit den Übungen des Schulungskapitels, die den Zipfel der Verinnerlichung, der Umstülpung, der Verwandlung in sich tragen und uns befähigen, Zukunft zu schaffen. Die Geheimwissenschaft